La Turbo Avedon existiert seit 2008 und lebt als nonbinärer Avatar im Internet.
Foto: La Turbo Avedon

Auf der Straße wird man dieser Person nicht begegnen. La Turbo Avedon existiert nämlich nur im Internet und kam 2008 im Online-Computerspiel Second Life zur Welt. Der nonbinäre Avatar ist seitdem künstlerisch im Metaverse tätig, die Werke sind teils von Online-Multiplayer-Rollengames inspiriert oder erinnern in deren Bildsprache an Landschaften aus Fortnite, Final Fantasy oder Minecraft. La Turbo Avedons digitale Installationen und Skulpturen werden in Ausstellungen gezeigt – nicht nur in virtuellen Kunsteinrichtungen.

So liefen sie bereits im New Yorker Whitney-Museum oder auf der Transmediale in Berlin. Jetzt richtet das Wiener Museum für angewandte Kunst (Mak) dem Kunstavatar die erste Soloschau im deutschsprachigen Raum aus. Welche "reale" Person dahintersteckt, ist nebensächlich. Eigentlich habe sich die Zusammenarbeit mit La Turbo Avedon nicht so sehr von jener mit anderen Künstlerinnen unterschieden, erzählt Kuratorin Marlies Wirth. Atelierbesuche und Besprechungen fänden oft über den Bildschirm statt, digitale Werke brauchen keinen physischen Transport.

Auf mehreren Screens tritt La Turbo Avedon mit wasserstoffblonden Kurzhaarschnitt immer wieder leicht abgewandelt in Erscheinung.
Foto: La Turbo Avedon

Die Videoinstallation entführt auf mehreren Screens in eine mit spezieller Software geschaffene Welt, die sich zwischen magischen Traumbildern und dystopischen Unterwasserszenen bewegt. Darin tritt La Turbo Avedon mit wasserstoffblonden Kurzhaarschnitt immer wieder abgewandelt in Erscheinung. Die grafischen Details sind beeindruckend, die Komposition wirkt berauschend, die Ästhetik erinnert an die eines mystischen Computerspiels. Klischeehafte Figuren oder Geballer gibt es hier nicht.

Mit der Ausstellung trifft das Mak einen Nerv der Zeit. Denn seit geraumer Zeit boomt nicht nur die Gaming-Industrie mit kommerziellen Computerspielen, auch die künstlerische Auseinandersetzung mit der animierten Bildsprache erfährt aktuell sehr viel Aufmerksamkeit. Das reicht von klassischen durch Videospiel-Ästhetik beeinflussten Werken bis zu digitalen Installationen, die tatsächliche Interaktionen zulassen. Ja, Game-Art kann auch gespielt werden.

Die im Mak gezeigte Videoinstallation "Pardon Our Dust" von La Turbo Avedon entführt in eine virtuelle Welt, deren Landschaften an bekannte Videospiele erinnern.
Foto: kunst-dokumentation.com / MAK

Aus der Nische in die Masse

Gerade erst eröffnete die bekannte Sammlerin für zeitbasierte Medien, Julia Stoschek, in Düsseldorf die Ausstellung Worldbuilding. Videospiele und Kunst im digitalen Zeitalter, in der Entwicklungen im Bereich des Bewegtbildes und künstlerische Auseinandersetzungen mit Computerspielen präsentiert werden: von Pac-Man über Harun Farocki bis La Turbo Avedon. Konzipiert hat die umfangreiche Präsentation der renommierte Kurator Hans Ulrich Obrist, der seit 2016 künstlerischer Leiter der Serpentine Galleries in London ist. Funfact: Ein digitaler Ableger der Einrichtung eröffnete Anfang des Jahres sogar im populären Spiel Fortnite.

Der konservativen Ansicht, Computerspiele hätten keinen künstlerischen Wert und wären reiner Zeitvertreib, widerspricht Obrist anlässlich der Düsseldorfer Ausstellung: "2021 haben 2,8 Milliarden Menschen Videospiele gespielt – nahezu ein Drittel der Weltbevölkerung – und machten damit eine Freizeitbeschäftigung, die lange in der Nische existierte, zu einem der größten Massenphänomene unserer Zeit. Viele Menschen verbringen täglich Stunden in einer Parallelwelt und leben dort verschiedene Leben. Videospiele sind für das 21. Jahrhundert, was Kinofilme für das 20. Jahrhundert und Romane für das 19. Jahrhundert waren." Warum sollten sie also nicht im Museum gezeigt werden?

In der umfassenden Ausstellung bei Julia Stoschek ist auch der Game-Klassiker "Pacman" vertreten.
Foto: Estate Sturtevant, Paris. Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, London/Paris/Salzburg/Seoul

Von einem aktuellen Trend in der Kunst würde Marlies Wirth allerdings nicht sprechen. Digitale Werke in Games-Ästhetik existieren schon länger, frühe Arbeiten gab es bereits in den 1990er-Jahren. Lange wurde experimentiert, bis die Technik den heutigen Stand erreicht hat. Qualität, Grafik und Textur verbesserten sich in den letzten Jahren kontinuierlich und immens – im künstlerischen sowie im kommerziellen Bereich. Seit immerhin zehn Jahren sammelt das MoMA in New York Videospiele, Einrichtungen wie das ZKM in Karlsruhe oder das Victoria and Albert Museum in London widmeten Gaming-Design schon eigene Ausstellungen. Durch ausgefeiltere Narrative und kommunikativere Spielformen verringerten sich die Vorurteile. Ein gesellschaftlicher Rufwandel ist kaum zu übersehen.

Der französisch-algerische Künstler Neïl Beloufa lädt aktuell zu einem begehbaren Computerspiel in die Secession – samt Spielautomaten!
Foto: Oliver Ottenschläger / Secession

Next Level am Spielfeld

Das Interesse seitens Künstlern gilt speziell den Spielarchitekturen, den diversen Identitäten sowie kollektiven Spielarten. Darüber hinaus nehmen viele immer wieder (kritisch) Bezug auf das "Web3", also die Idee eines dezentralisierten Internets, das auf Blockchain-Technologie basiert und unabhängig von Großkonzernen und somit abseits von Machtzentren funktionieren soll. So zum Beispiel der französisch-algerische Videokünstler Neïl Beloufa, dessen Arbeiten momentan in der Wiener Secession zu sehen sind. Wobei es sich weniger um eine klassische Ausstellung als um ein begehbares Computerspiel handelt.

Zusätzlich zur Eintrittskarte benötigt man ein Spielticket (zwei Euro), das man bei einzelnen Stationen einscannt. Überall blinkt und leuchtet das Spielfeld, es gilt Aufgaben zu lösen und Punkte zu sammeln. Sogar an Spielkonsolen (mit Greifarm!) kann man sein Glück versuchen und am Ende ein Kunstwerk gewinnen. Dass es inhaltlich um Pandemie, Überwachung, Machtmissbrauch geht und als Parodie auf Kryptoszene, Privatisierung im digitalen Raum und Kapitalismus zu verstehen ist, merkt das Publikum vielleicht gar nicht sofort. Der spielerische Zugang von Beloufas Arbeiten, die in Institutionen weltweit gezeigt werden, gewährt einen niederschwelligen Zutritt in einen Kosmos zwischen Realität und Fiktion: Scharfsinnige Gesellschaftskritik serviert dieser spaßige Parcours ganz nebenbei.

Generell kristallisiert sich ein spannender Aspekt heraus: Mit zeitbasierten Ausstellungen wie diesen können Institutionen ganz neue Zielgruppen erreichen, die sonst vielleicht selten klassische Kunsthäuser besuchen. Die Botschaft: Museen und Videospiele widersprechen einander nicht. Welche Potenziale hier noch warten, haben jedoch erst ein paar Einrichtungen für sich entdeckt. (Katharina Rustler, 9.7.2022)