Die Medien kannten nur ein Thema. Ob der Bewohner von Downing Street die Zeitungen auch alle gelesen hat?

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Dass nach den Chaostagen wieder so etwas wie Normalität eingezogen ist, verdeutlichte am Freitag ein Live-Gast des BBC-Radiomagazins "Today". Bildungsminister James Cleverly durfte trotz heftigen Piesackens der Interviewerin die üblichen Worthülsen zugunsten von Boris Johnson absondern. Beinahe glaubte man, so etwas wie erleichtertes Aufatmen an den Frühstückstischen der Nation zu hören.

Denn nichts hatte tags zuvor die Krise der konservativen Regierung besser illustriert als die komplette Abwesenheit eines Ministers aus den Radio- und TV-Studios. Stattdessen kommentierten Hinterbänkler und Experten, bis endlich feststand, dass der Premier einen Rückzug auf Raten bekannt geben würde.

Vom "Long Good-bye" sprach am Freitag abfällig der "Daily Telegraph". Und die "Times" drängte die Tories dazu, einen Plan des gefeuerten Ministers Michael Gove in die Tat umzusetzen: Johnson solle per Ultimatum zu Beginn kommender Woche aus dem Amt gedrängt werden, anstatt, wie von ihm geplant, noch bis September die Downing Street und vor allem den Landsitz Chequers besetzt zu halten. Danach sah es zum Wochenende nicht aus: Vielmehr dürfte am Montag lediglich der Fahrplan für die Wahl jener Person bekannt gegeben werden, die Johnsons Nachfolge antritt.

Wer auch immer das Rennen macht, wird es schwer haben. Sein Rauswurf durch den "Herdeninstinkt" der Parlamentsfraktion sei ja ziemlich "exzentrisch", hatte Johnson am Donnerstag behauptet. Der amtierende Premier hat wohl eine lange Nase: Genau elf Prozent liegen die Konservativen (29) dem Marktforscher Yougov zufolge hinter Keir Starmers Labour Party. Viel wichtiger: Seit Wochen machen die Liberaldemokraten in den Umfragen Punkte gut, liegen nun bei 15 Prozent.

Alle gegen die Tories?

Bei der kommenden Unterhauswahl droht für die seit 2010 regierenden Tories also Realität zu werden, was die beiden jüngsten örtlichen Nachwahlen suggerierten: Die älteste Partei der Welt könnte einer Anti-Tory-Koalition aus Labour und Libdems zum Opfer fallen.

Johnsons Nachfolgerin oder Nachfolger dürfte es schwer haben, das Wählerbündnis von 2019 zusammenzuhalten. Denn es bestand aus den Stammwählern im prosperierenden Süden und jenen Brexit-begeisterten Regionen in der Mitte und im Norden Englands, die zuvor seit Jahrzehnten Labour gewählt hatten.

Der EU-Austritt mag in der konservativen Fraktion noch immer ikonenhaften Charakter haben; im Land zählt der korrekte Glaube an die Großartigkeit des Brexits längst nicht mehr zu den vorrangigen Problemen. Diese sind vielmehr vor allem wirtschaftlicher Natur, und der Brexit zählt zu den wichtigsten Ursachen.

Die Handelsbilanz sieht düster aus, das Wachstum schwächelt bei 0,8 Prozent. Der OECD zufolge wird es 2023 hinter alle anderen G7-Staaten zurückfallen. Schon jetzt verzeichnet die Insel die höchste Inflation der G7-Gruppe; der Bank of England zufolge liegt die Teuerungsrate derzeit bei 9,1 Prozent und wird im Oktober elf Prozent erreichen. Dies hängt nicht zuletzt mit dem baldigen Wegfall einer Preisbegrenzung für Gas und Strom zusammen. Der populäre TV-Sparberater Martin Lewis sagt deshalb "zivilen Ungehorsam bis hin zu Unruhen" voraus, falls die Regierung nicht ärmeren Haushalten unter die Arme greift.

Steuersenkungen als Wählerköder

Wirtschafts- und finanzpolitische Argumente dürften deshalb im Diadochenkampf der Konservativen eine gewichtige Rolle spielen, was die beiden früheren Schatzkanzler, Sajid Javid und Rishi Sunak, sowie deren Nachfolger Nadhim Zahawi begünstigen dürfte. Nicht umsonst stellte der versierte Außenpolitiker und Ex-Soldat Tom Tugendhat zur Eröffnung seines Wahlkampfes Steuersenkungen in Aussicht. Zahawi hat dies ebenfalls befürwortet. Konkret ist von einer zeitweiligen Reduzierung der Mehrwertsteuer die Rede. Zudem soll die Körperschaftssteuer nicht wie angekündigt schrittweise auf 25 Prozent erhöht werden.

Unausgesprochen bleibt dabei meistens, dass angesichts des teuren Gesundheitssystems NHS sowie notwendiger Entlastungen finanzschwacher Haushalte Steuersenkungen nur durch zusätzliche Staatsschulden finanziert werden können. Diese liegen schon jetzt bei 84 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zudem wird ihre Tilgung mit jeder Leitzinserhöhung teurer. Laut Budgetbehörde OBR werden die Zinskosten der Staatsschulden bis April 2023 rekordhohe 7,6 Prozent des BIP erreichen.

Angesichts solcher Summen fallen die Kosten der Chaostage von Westminster kaum ins Gewicht. Die junge Tory-Abgeordnete Michelle Donelan verzeichnete nicht nur den Rekord als die am kürzesten dienende Bildungsministerin aller Zeiten: Für ihre Amtszeit von 35 Stunden steht der 38-Jährigen auch ein Übergangsgeld von 20.070 Euro zu. Crisis? What crisis? (Sebastian Borger aus London, 8.7.2022)