Ob Beethoven interessiert daran gewesen wäre, vervielfältigt zu werden oder seine Ideen einer künstlichen Intelligenz zu überantworten?

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Fast neun Minuten dauert das Scherzo. Es setzt mit einem dynamischen Thema an, das man zu kennen glaubt. Seine Geburt scheint das Thema im 3. Satz der Fünften von Beethoven erlebt zu haben. Was da tönt, ist allerdings nicht die berühmteste aller Symphonien des Bonner Komponisten. Das Scherzo ist Teil der 10. Symphonie von Beethoven, wobei: Mit Fortdauer des Satzes überkommen einen gewisse Zweifel. Zwar ist der Stil nahe am Genius: die forsche Rhythmik, die harmonische Erhabenheit und Klarheit der Wiener Klassik. Alles da.

Nur scheinen den Titanen nach dem ersten dynamischen Aufschwung rätselhafterweise die Kräfte verlassen zu haben. Er reiht Klischees aneinander. Sequenzartig wird von ihm ein mediokres Motiv wenig inspiriert einfach auf einer anderen Tonstufe variiert. Das klingt nach tönender Maturaarbeit. Und nimmt man die 9. Symphonie Beethovens als Vergleich, scheint der Meister dramaturgisch im Scherzo etwas den Überblick verloren zu haben.

Es gab nicht viel

Keine Angst, Beethovens Rolle in der Musikgeschichte muss nicht überdacht werden. Was ein bisschen wie ein Jugendwerk mit unfreiwillig parodistischen Pointen (etwa an Satzschlüssen oder im Rondo) klingt, ist nicht von Beethoven. Es ist ein Phantom, eine reizvolle Spekulation, ein Experiment. Beethoven hat keine Zehnte geschrieben, es wurden nur einige seiner Skizzen diesem Vorhaben zugeordnet – komponiert hat eine künstliche Intelligenz: Sie wurde mit den Skizzen und anderen Werken Beethovens (und seiner Zeitgenossen) gefüttert. Hernach komponierte die Maschine weiter. Die mutmaßlich Zehnte sollte in Beethovens Jubeljahr zu dessen 250. Geburtstag erklingen.

Mensch half mit

Das Ergebnis – von der Deutschen Telekom in Auftrag gegeben – wurde dann 2021 in Bonn uraufgeführt, nun kommt das Kunstprodukt nach Kärnten. Am Samstag wird es unter der Leitung von Dirigent Thomas Fheodoroff vom Ensemble Prisma und Johannes Zeinler an der Orgel (ja, die gibt es in der Zehnten!) vorgestellt. Wichtig zu wissen: Es bedurfte doch noch der humanen Gehirnwindungen, um das Werk mit Sinn zu erfüllen, der Mensch half der Maschine: Die Musiker und Musikerinnen des uraufführenden Bonner Orchesters schickten die erste Version als eher unspielbar zurück.

Millionen Noten

Obwohl die gefütterte KI an die zwei Millionen Noten produzierte, mussten arrangierende Menschen das Ergebnis dann doch ordnen. Beim Carinthischen Sommer (im Congress Center Villach) kann das Publikum humanes und digitales Nachkomponieren vergleichen. Neben der Zehnten wird auch der 1. Satz aus Beethovens Violinkonzert in C-Dur gespielt, das von Joseph Hellmesberger dem Älteren 1875 vollendet wurde. Beethoven selbst hat ja nur ein Violinkonzert geschrieben, eines in D-Dur.

Ja, der Schmerz des Unvollendeten ist groß. Mahlers Zehnte wurde schon simuliert. Wie wäre es mit dem verschollenen 4. Satz aus Bruckners 9. Symphonie? Wer weiß. Wenn KI dazulernt, Geschmack entwickelt, wird das musikalisch vielleicht doch noch interessant. Vorläufig könnte Gewagtes probiert werden. Man füttere die KI mit Mozarts Stil und jenem von Paul McCartney und schaue, was die beiden so zusammen komponiert haben könnten. Nur zu! (Ljubiša Tošic, 9.7.2022)