Zeugnisvergabe: Das einstündige Ritual zum Schulschluss bietet wenig Raum für eine differenzierte Betrachtung.

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Vergangenen Freitag wurden nun auch im Westen des Landes die Zeugnisse verteilt. Die Schülerinnen und Schüler wurden mit einem Blatt Papier mit einer Liste an absolvierten Schulfächern und zugeordneten Zahlen zwischen eins und fünf in die Ferien "entlassen". Das einstündige Ritual zum Schulschluss bietet wenig Raum für eine differenzierte Betrachtung. Die besonderen Talente jedes Kindes, geschweige denn der Gesamterfolg einer Klasse als Gruppe an Lernenden, lassen sich daran nicht ablesen.

In unserem Schulsystem werden von Beginn an Fehler rot markiert und Erfolge wenig gefeiert. Doch würde es für Kinder nicht viel mehr Sinn ergeben, sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren und diese zu entwickeln? Behaupten wir nicht immer, wir würden fürs Leben lernen und nicht für Noten?

Wertschätzung im vertrauensvollen Rahmen

Auch außerhalb der Schule schauen wir eher auf unsere Schwächen und die der anderen. Mit Wertschätzung scheinen wir uns in unserer Gesellschaft schwerzutun. Was wäre, wenn wir zumindest in unserem eigenen Umfeld versuchen, das zu ändern? Dazu ein kleines Beispiel aus meiner eigenen Führungserfahrung: Jeweils bei unserer ersten wöchentlichen Teamsitzung im Monat lade ich meine Kolleginnen und Kollegen zu einer Reflexion ein. Ich stelle die Frage, welche Stärke oder Fähigkeit er oder sie an einer anderen Person besonders schätzt. Ich mache das einfach nach der Sitzordnung der Reihe nach, und manchmal ziehen wir den Namen per Los. Auch wenn die Übung anfänglich für manche ungewöhnlich war, gelang es uns bald, einen vertrauensvollen Rahmen zu schaffen.

Eine solche Einladung auszusprechen ist nur sinnvoll, wenn du als Führungskraft auch davon überzeugt bist und Gespräche, in denen sich Menschen öffnen, auch gewährleisten kannst. Über die Stärken anderer zu reflektieren wurde so zu einer echten Bereicherung. Alle, die dabei mitmachen, gehen nachher mit einem gestärkten Selbstvertrauen in den Tag und haben mehr Kraft, auch jene Dinge anzupacken, die einem schwerfallen. Wenn ich weiß, wo ich wirklich gut bin, kann ich meine Defizite auch besser angehen.

Teamgeist und Gesamterfolg

Für mich als Teamleiter ist es oft erstaunlich, was ich zusätzlich über die Kolleginnen und Kollegen erfahre. Da zeigt sich plötzlich, welche Rollen und Aufgaben Teammitglieder erfüllen, die nicht in ihrer offiziellen Stellenbeschreibung stehen, aber viel zum Teamgeist und zum Gesamterfolg der Organisation beitragen: Der eine hat für Fragen neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer ein offenes Ohr und die nötige Geduld; die andere bereichert die Gruppe mit ihrer Kreativität, wenn komplizierte Probleme auftauchen. Für mich sind diese Runden eine tolle Gelegenheit, mein Team noch besser kennen- und schätzen zu lernen.

Mittlerweile haben meine Frau und ich das Ritual auch bei uns zu Hause mit unseren Kindern eingeführt. Dieses Schuljahr endete nicht mit der bloßen Beschau von Noten in den Zeugnissen, sondern mit offenen Fragen: Was ist dir besonders gut gelungen, wo haben sich deine Talente besonders gezeigt, welche möchtest du im kommenden Jahr weiter stärken, und wo hast du dich womöglich ungerecht beurteilt gefühlt? (Philippe Narval, 10.7.2022)