Ende Juni zogen sich die russischen Truppen von der Schlangeninsel im Schwarzen Meer zurück, bald darauf wurde die ukrainische Flagge gehisst.

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Myroslaw Hai war Aktivist bei der Revolution auf dem Kiewer Maidan. Seit 2014 kämpft er in der Ostukraine.

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Die Schlangeninsel im Schwarzen Meer ist seit dem ersten Kriegstag ein Symbol des ukrainischen Widerstands. Zwischenzeitlich geriet sie in russische Hand, nun ist sie wieder unter ukrainischer Kontrolle. Myroslaw Hai hat die Rückeroberung, eine Kooperation mehrerer Truppenverbände, maßgeblich mitkommandiert.

STANDARD: Russland hat den Rückzug von der Schlangeninsel als "Geste des guten Willens" bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

Hai: Wir haben unsere Artillerie, ein Bogdana-Geschütz, an der Küste postiert, genau dort, wo sich das mit der Reichweite noch ausgeht. Damit haben wir erst einmal ihre Luftabwehranlagen und ihre Lagerhäuser auf der Insel zerstört, ihr Radar und ihre Munition. Unsere Raketen hatten sie zuvor abgefangen. Gegen die ballistische Artillerie konnte die russische Luftabwehr aber nichts ausrichten. Und nach den Artillerieschlägen konnten wir sie auch mit Raketen bombardieren. Die Russen haben die Insel dann sehr schnell in kleinen Gruppen verlassen, sie hatten keine Zeit, ihre Ausrüstung von der Insel zu bringen. Was noch übrig war, haben sie später als "Geste des guten Willens" mit Raketenschlägen zerstört – Material im Wert von rund einer Milliarde US-Dollar.

STANDARD: Die Insel ist ein kleiner Felsen im Meer. Warum ist sie so wichtig?

Hai: Sie hat nach der Versenkung der Moskwa in erster Linie die Aufgabe dieses Schiffes übernommen, den Luftraum über diesem Teil des Schwarzen Meeres zu kontrollieren. Aber sie ist auch psychologisch und politisch wichtig. Nachdem die russische Armee den Verlust der Insel in den sozialen Medien als Geste des guten Willens dargestellt hat, hatte das eine demoralisierende Wirkung in der russischen Gesellschaft und im Militär. Deshalb war die Operation nicht nur in militärischer, sondern auch in kommunikationstechnischer und politischer Hinsicht wichtig. Aber freilich: Die Insel ist auch ein sehr wichtiger Punkt, um eben diesen Teil des Schwarzen Meeres zu kontrollieren.

STANDARD: Für Russland war sie von strategischer Bedeutung im Krieg gegen die Ukraine. Aber hat sie auch für die Ukraine strategische Bedeutung im Krieg gegen Russland?

Hai: Ganz einfach: Je mehr die Ukrainer die Kontrolle im Schwarzen Meer haben, desto mehr wird Russland daran gehindert, in ebendieser Region frei zu agieren.

STANDARD: Ist die Rückeroberung der Insel vor allem auch ein Schritt hin zur Öffnung des Hafens von Odessa?

Hai: Ja. Diese Operation hat Hoffnung geweckt und auch Möglichkeiten sichtbar gemacht. Aber das Schwarze Meer ist vermint, und man kann dort erst dann von Sicherheit sprechen, wenn diese Minen entfernt sind. So weit sind wir noch nicht. Was allerdings wichtig ist: Die ukrainischen Streitkräfte haben der Welt gezeigt, wie man Russland zu "Gesten des guten Willens" bringt.

STANDARD: Gab es bei der Aktion denn ausländische Unterstützung?

Hai: Diese Informationen liegen mir nicht vor. Aber aus den Unterlagen und Informationen, die ich erhalten habe, kann ich sagen, dass die allermeisten Informationen von der Überwachung durch Bayraktar-Drohnen stammen. Es gab auch Informationen aus anderen Quellen, aber ich kann nicht sagen, von wem.

STANDARD: Sie haben erwähnt, dass Bogdana eingesetzt wurde, ein ukrainisches Geschütz. Haben internationaleWaffenlieferungen an die Ukraine bei der Einnahme der Insel denn eine Rolle gespielt? Und wie wichtig sind solche Lieferungen in Summe für die Ukraine?

Hai: Bei der Schlangeninsel war in erster Linie natürlich die Bayraktar-Überwachung von Bedeutung. Es wurden dann auch andere Artilleriesysteme eingesetzt, die von internationalen Partnern geliefert wurden. Die USA und die europäischen Partner spielen natürlich eine strategische Schlüsselrolle. Wir wären nie an dem Punkt angelangt, an dem wir uns jetzt befinden. Aber mit Blick auf die Zukunft: Wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, muss diese Hilfe viel größer werden.

STANDARD: Ist es geplant, dass auf der Insel Truppen stationiert werden?

Hai: Ich denke, das wird nicht passieren. Die Insel liegt auch in Reichweite Russlands. Im Gegensatz zu Russland kümmert sich die Ukraine um ihre Soldaten. Und Soldaten wären dort einem sehr großen Risiko ausgesetzt. Aber ich bin mir sicher: Wenn Russland mehr und mehr Verluste erleidet und die Ukraine stärker wird, wird es möglich sein, Truppen dort zu stationieren.

STANDARD: Odessa war und ist eines der erklärten Kriegsziele Russlands. Wie wahrscheinlich sind offensive Operationen Russlands in diesem Gebiet jetzt?

Hai: Wir wissen natürlich, dass Russland Odessa einnehmen will, aber mit Waffenlieferungen der USA und Europas werden die Möglichkeiten der russischen Streitkräfte immer geringer.

STANDARD: Liegt das an den verbesserten Fähigkeiten der Ukraine oder an Verlusten Russlands?

Hai: Beides. Dank der ukrainischen Neptun und der amerikanischen Harpoon trauen sich die russischen Schiffe nicht mehr in das von diesen Raketen abgedeckte Gebiet – weil sie von eben diesen Systemen mehrfach getroffen worden sind. Sie kommen ganz einfach nicht mehr. (Stefan Schocher, 11.7.2022)