Jedes Jahr werden in Potočari noch immer Genozid-Opfer beerdigt.

Foto: AP / Durgut

Regen fällt auf die Köpfe, die Kolonne setzt sich in Bewegung, manche singen leise. Durch die Hügellandschaft Ostbosniens legen tausende Menschen auch heuer jene Strecke von 110 Kilometern zu Fuß zurück, die die Flüchtenden im Juli 1995 wählten, um den Mordkommandos der Armee der Republika Srpska (RS) zu entkommen. Hunderte wurden damals auf diesem Fluchtweg aus dem Hinterhalt erschossen.

Der jährliche Friedensmarsch, mit dem an den Völkermord an mehr als 8300 Bosniaken erinnert wird, ist für Überlebende, die Angehörigen der Opfer und Menschen aus der ganzen Welt zu einem Ritual des Gedenkens und Mahnens geworden. Der Marsch ist auch wichtig, weil die politischen Unterstützer der Täter den Genozid weiter leugnen. Ziel der Täter war es, alle Nichtserben zu vertreiben oder zu ermorden, um die RS an ein "Großserbien" anzuschließen.

In Kravica, einem Ort, 24 Kilometer von Srebrenica entfernt, steht jene Lagerhalle, in der am 13. Juli 1995 mehr als 1000 Menschen erschossen wurden. Die Maschinengewehrsalven haben tiefe Löcher in den Wänden der Halle hinterlassen.

DER STANDARD

Umstrittene Renovierung

Doch der Bürgermeister lässt das Gebäude nun für fast 100.000 Euro "renovieren", die Außenwände der Stätte des Verbrechens sind bereits übermalt. Beim Besuch der Halle fragen Nachbarn, weshalb man hier Fotos machen würde. Kurze Zeit später taucht ein schwarzes Auto auf. Ein Mann steigt aus, er ruft, man solle verschwinden. Er stellt sich breitbeinig an den Straßenrand und fotografiert das Auto der Reporterin, offenbar ein Einschüchterungsversuch.

Am nächsten Tag stehen die Farbkübel bereits in der Halle. Möglich ist, dass die Einschusslöcher ganz bald durch Spachteln und Farbe beseitigt werden, die Genozid-Beweise vernichtet und übertüncht werden. 2016 haben Aktivisten ein Schild vor der Halle angebracht, um auf das Verbrechen und die Opfer aufmerksam zu machen, die Gedenktafel wurde aber entfernt. In der Republika Srpska wird die Genozid-Leugnung politisch verordnet.

Die Einschusslöcher könnten bald durch Spachteln und Farbe beseitigt werden.
Foto: Adelheid Wölfl

Emir Suljagić, Leiter der Gedenkstätte in Potočari, wo 1995 niederländische UN-Soldaten stationiert waren und wo zehntausende Leute aus Srebrenica hinflüchteten, als am 11. Juli 1995 die Stadt von der Armee der RS eingenommen worden war, spricht von einem "aktiven Verbot des Gedenkens" seitens der politischen Elite der RS.

"Sie hatten drei Jahrzehnte Zeit, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, aber das Gegenteil ist passiert", sagt Suljagić zum STANDARD. "Warum soll ich meine Zeit damit verschwenden, die aufzuklären? Auf unserer Seite steht die DNA-Analyse der Opfer, die haben nur ihre Volkslieder." Positiv sieht er aber, dass jenes Gesetz des früheren Hohen Repräsentanten Valentin Inzko, das die Leugnung der Kriegsverbrechen unter Strafe stellt, Wirkung zeigt. Viele trauten sich nicht mehr öffentlich zu leugnen. (Adelheid Wölfl aus Srebrenica, 11.7.2022)