Egon Krenz stellt sein neues Buch vor – und kommentiert wider Erwarten doch die Weltpolitik.

Foto: IMAGO/Wolfgang Maria Weber

Wer Egon Krenz besucht, muss in die Abgeschiedenheit. In Dierhagen an der Ostsee (Mecklenburg-Vorpommern), 30 Kilometer nordöstlich von Rostock, lebt der letzte Staatschef der DDR in einem Haus hinterm Deich. Eisläden und Fischbuden für Touristinnen und Touristen sind weit weg. Aber bis zum Meer geht man nur wenige Meter, die Brandung ist im Garten zu hören.

In der Gegend hat Krenz seine Jugend verbracht und Anfang der Sechzigerjahre auch seinen Aufstieg in der SED (Sozialistische Einheitspartei) und der DDR-Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend) begonnen.

Danach ging es an die Parteihochschule der KPdSU in Moskau und schließlich nach Berlin, wo Krenz aufstieg, nach Erich Honeckers Sturz die DDR retten sollte, aber 1989 scheiterte. Es folgten im wiedervereinigten Deutschland 1999 bis 2003 vier Jahre Haft (wegen Totschlags/Grenzregime an der Berliner Mauer).

Nun ist Krenz 85 Jahre alt und legt den ersten Band seiner auf drei Teile angelegten Memoiren vor. Bücher hat er schon einige geschrieben, etwa "Wir und die Russen" im Jahr 2019. In den Memoiren wollte er persönlicher werden.

Medien aus Deutschland gibt Krenz nicht gerne Interviews. Vor dem Gespräch mit dem STANDARD teilte er mit, dass er das "aktuelle Zeitgeschehen" nicht kommentieren werde.

Doch vor Ort ist er dann doch bereit:

STANDARD: "Nie wieder Krieg" – das war immer Ihre Leitlinie, die Sie in Ihren Memoiren ausführlich beschreiben. Wie geht es Ihnen mit Blick auf die Ukraine?

Krenz: Sehr schlecht. Ich habe den Zweiten Weltkrieg noch erlebt. Mir braucht keiner zu sagen, wie einem zumute ist, wenn man im Luftschutzkeller sitzt und nicht weiß, ob man wieder herauskommt. Nie wieder Krieg – das hat mir schon meine Mutter in die Wiege gelegt. Sie hat ihren ersten Mann im Ersten Weltkrieg verloren und meinen Vater im Zweiten. Ich stehe in Fragen von Krieg und Frieden auf dem Boden der DDR-Staatsdoktrin: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Dieses gemeinsame Versprechen von Willy Brandt, Helmut Kohl und Erich Honecker sehe ich durch die gegenwärtige Politik der deutschen Regierung gefährdet.

STANDARD: Führt Deutschland in Ihren Augen Krieg?

Krenz: Vielleicht nicht de jure, aber de facto. Es herrscht nicht nur eine angstmachende Kriegsrhetorik. Deutschland liefert Waffen. Jede Waffenlieferung ist aber eine neue Lizenz zum Töten. Zudem werden ukrainische Soldaten auf deutschem Territorium ausgebildet. Statt Waffen zu liefern, wäre eine diplomatische Offensive zur Beendigung des Krieges erforderlich. Ich bin froh darüber, dass die DDR der einzige deutsche Staat ist, der nie einen Krieg geführt hat. Kein DDR-Soldat hat jemals fremden Boden zu Kampfeinsätzen betreten.

STANDARD: Dann sollte Russland sofort die Angriffe einstellen?

Krenz: So einfach ist das leider nicht. Formal gesehen ist es ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, tatsächlich aber eine globalpolitische Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland auf Kosten der Bevölkerung. Die USA möchten der alleinige Weltherrscher sein und benutzen die Ukraine zum Ausbau eines Anti-Russland-Staates. Dem stellt sich Russland mit eigenen Sicherheitsinteressen entgegen. Ich erinnere auch daran, dass es – solange die Sowjetunion existierte und mit ihr auch die DDR – in Europa keine Kriege gegeben hat.

STANDARD: Russland hat den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Das ist unstrittig.

Krenz: Die DDR-Schriftstellerin Christa Wolff hat in ihrem Roman "Kassandra" einen interessanten Gedanken geäußert. Wann ein Krieg beginnt, schreibt sie, kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Auch bei diesem Krieg gibt es eine Vorgeschichte, die in der aktuellen Politik leider keine Rolle spielt. 1989 hat Michail Gorbatschow leichtsinnig den Kalten Krieg für beendet erklärt, während George Bush senior die USA zum Sieger kürte. Dennoch stimmte Moskau der deutschen Einheit trotz Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland zu. Ohne diesen Kompromiss hätte es keine deutsche Einheit gegeben. Ich habe noch erlebt, dass man gesagt hat, die Nato darf nicht einmal auf das Territorium der früheren DDR ausgedehnt werden. Jetzt ist sie an der russischen Grenze. Die Mauer wurde symbolisch faktisch von Berlin nach Osten versetzt.

STANDARD: Aber die russische Grenze wird nicht übertreten. Die Russen hingegen übertreten Grenzen und töten in der Ukraine. Lässt Sie, den Antifaschisten, das kalt?

Krenz: Natürlich lässt mich das nicht kalt. Ich habe Freunde in beiden Staaten. Zu Sowjetzeiten lebten sie wie Brüder und Schwestern zusammen. Aber ich kann auch nicht vernachlässigen, dass keine russischen Soldaten an den Grenzen von Mexiko zu den USA stehen, während US-Truppen tausende Kilometer von der Heimat entfernt vor Russland disloziert sind. Ich hätte sogar eine Idee, wie man da wieder rauskommen könnte, aber die wird niemand umsetzen wollen.

STANDARD: Wie lautet diese Idee?

Krenz: So wie europäische Politiker bei Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj waren, könnten sie auch nach Washington reisen und Präsident Joe Biden überzeugen, mit Russland auf Augenhöhe über die Vorschläge Putins zur Wahrung russischer Sicherheitsinteressen vom Dezember 2021 zu verhandeln. Das würde europäischen Interessen dienen. Für guten Willen gibt es ja eine Blaupause: UdSSR-Ministerpräsident Nikita Chruschtschow und US-Präsident John F. Kennedy haben zweimal – einmal 1961 in Berlin und einmal 1962 in Kuba – einen Weltkrieg verhindert. Wäre ja nicht schlecht, wenn so etwas auch später über Olaf Scholz im Geschichtsbuch stehen könnte.

STANDARD: Die Kampfhandlungen kann nur Russland einstellen.

Krenz: Die Realitäten sind leider anders: Der Schlüssel dazu liegt in den USA. Der Westen könnte natürlich aus eigenem Interesse und als Geste guten Willens gegenüber Russland seine Gasknappheit dadurch aufheben, dass die Sanktionen, die Deutschland mehr schaden als Russland, aufgehoben werden. Niemand bräuchte im Winter zu frieren, wenn Nord Stream 2 geöffnet würde. Das hätte – wie sich schon jetzt zeigt – keinerlei Einfluss auf den Krieg, würde aber die Atmosphäre verbessern.

STANDARD: Täglich sterben Menschen. Müsste man Putin nicht auch in die Verantwortung nehmen?

Krenz: Wenn es wahr ist – und es ist so –, dass ohne Russland kein wichtiges Problem in Europa und in der Welt zu lösen ist und dass es ohne Russland keinen Frieden geben wird, dann muss man Wege finden, mit der russischen Führung zu verhandeln. Russophobie ist die falsche Antwort.

STANDARD: Sie lassen keine Kritik an Russland zu. Woher kommt diese "Freundschaft"?

Krenz: Ich bin "Russlandversteher" seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Damals half mir ein Rotarmist, zu überleben. Boris Jelzin würde ich nicht als meinen Freund bezeichnen. Aber ja, die Bürger Russlands sind Freunde. Und auch die der Ukraine. Ich habe drei Jahre in Moskau studiert und da ein prägendes Erlebnis gehabt. Damals nahm mich ein Autobauer mit zu seiner Familie nach Hause. Das war an einem 22. Juni. An diesem Tag wurde dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gedacht. Da habe ich verstanden, warum es den Russen so wichtig ist, dass nie wieder ausländische Militärs so dicht an ihrer Grenze stehen dürfen. Das ist auch die Antwort drauf, warum so viele Russen Putin unterstützen.

STANDARD: Sie haben jahrzehntelang die Politik der DDR maßgeblich geprägt. Fehlt Ihnen die DDR?

Krenz: Es wäre merkwürdig, würde ich jetzt sagen: Ich vermisse das, was ich geliebt und wofür ich gearbeitet habe, nicht. Das wäre schon eine komische Antwort. Ich setze mich für eine differenzierte Wertung der DDR und ihrer Geschichte ein. Sicher, wir hatten nicht das Paradies auf Erden, aber die Hölle erst recht nicht. Das letzte Wort über die DDR-Geschichte ist noch nicht gesprochen.

STANDARD: Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen "Schlechtreden" und berechtigter Kritik? Welche Fehler haben Sie selbst gemacht?

Krenz: Ich weiß ja, dass die meisten, die uns nicht gut gesonnen sind, sagen: Das Schlimme war der Mauerbau. Natürlich war die Berliner Mauer das hässlichste Bauwerk, das Deutschland hatte. Aber auch das notwendigste. Selbst der damalige US-Präsident John F. Kennedy hat gesagt, die Mauer sei keine schöne Lösung, aber immer noch besser als der Dritte Weltkrieg.

STANDARD: Und sonst?

Krenz: In den ersten Jahren der DDR mit Walter Ulbricht gab es kaum ein Gesetz, das nicht mit dem Volk diskutiert wurde. Die Gesetze waren auch so geschrieben, dass Leute sie verstehen konnten, die nicht studiert hatten. Das hat in den 1970er- und 1980er-Jahren dann leider nicht mehr so stattgefunden. Ich habe ja 1989 eine Entschließung für das Politbüro ausgearbeitet, die lange diskutiert worden ist und die sogenannte Wende eingeleitet hat. Dort habe ich gesagt: "Die Informationspolitik muss besser sein, die Versorgung muss besser funktionieren und die Möglichkeit zu reisen." Das hätten wir viel früher – spätestens nach 1975 – lösen müssen. Für Reisefreiheit hätte die Bundesrepublik die Staatsbürgerschaft der DDR respektieren müssen.

STANDARD: Wenn die DDR, so wie Sie schreiben, das bessere Deutschland war, warum gibt es sie nicht mehr?

Krenz: Das ist die Frage aller Fragen. Ich beschäftige mich seit 30 Jahren damit und komme immer wieder zu neuen Erkenntnissen. Es ist ein Geflecht aus innen- und außenpolitischen, aus ökonomischen und politischen, moralischen und innerdeutschen, aus weltpolitischen und gesamtdeutschen Ursachen. Leider gibt es noch keine ernsthafte wissenschaftliche Analyse über den Epochenwechsel von 1989 bis 1991.

STANDARD: Welche Überlegungen gibt es noch?

Krenz: Da kommt dann die Sowjetunion ins Spiel. Ich habe mir nie vorstellen können, dass uns unser Verbündeter, unser Freund, wie wir immer glaubten, also die Gorbatschow-Führung in Moskau, hintergehen würde. Alles, was mit der deutschen Einheit zusammenhing, ist wesentlich durch Gorbatschow hinter dem Rücken der DDR passiert. Ich bin schon glücklich darüber, dass ich am Abend des 9. November 1989 nicht die Nerven verloren habe.

STANDARD: Sie sprechen vom Abend des Mauerfalls.

Krenz: Viele Leute sagen, es sei den Menschen mit ihrem Lichterprotest zu verdanken, dass es ruhig blieb. Ich will da auch gar nicht streiten. Aber diese Leute müssen zur Kenntnis nehmen, dass die bewaffneten Kräfte unsere waren und die Waffen auch. Ich hatte schließlich den Oberbefehl in dieser Zeit. Der Systemwechsel ist ohne einen Schuss gelungen. Wir haben Europa 1989 nicht in einen Krieg geführt.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihren Memoiren, dass Sie als Kind mit Ihrer Mutter in den Westen gehen hätten können, da Ihre Halbschwester auf Sylt (Schleswig-Holstein) lebte. Haben Sie nie bedauert, dass es dazu nicht kam?

Krenz: Meine Schwester wollte, dass wir nachkommen. Wir waren 1947 auch eine Zeitlang dort, es war noch die britische Zone. Aber dann hat sich meine Mutter entschieden, mit mir zurückzugehen, weil sie fand, dass im Westen noch zu viele Nazis Einfluss hatten. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Ich stamme aus sehr einfachen Verhältnissen, ich hätte im Westen nicht die erfolgreiche Entwicklung nehmen können, wie es dann in der DDR geschah. Ich habe das Glück gehabt, an einer neuen Gesellschaft mitzubauen, in der der Mensch nicht des Menschen Feind, sondern sein Freund sein sollte. Und als sich die Epoche änderte, haben wir nicht die Tür hinter uns zugeschlagen, sondern haben den Übergang friedlich gestaltet. Das ist auch ein Zukunftswert, den die DDR hinterlassen hat. (Birgit Baumann, 16.7.2022)