Sie kämpften für umfassendere politische Reformen, sagte ein Demonstrant. Sri Lanka steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit 1948.

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Colombo – In Sri Lanka will die gesamte Regierung zurücktreten, sobald eine Vereinbarung für eine Einheitsregierung erzielt werden kann. "Alle Minister, die an der Diskussion teilgenommen haben, wollen den Staffelstab übergeben, sobald eine Einigung über die Bildung einer Einheitsregierung erreicht ist", teilte das Büro des Ministerpräsidenten Ranil Wickremesinghe am Montag mit. Auch Staatspräsident Gotabaya Rajapaksa hat demnach den Kabinettschef über seinen Rücktritt informiert.

Demonstranten besetzten indes am Montag weiterhin den Präsidentenpalast und das Präsidialamt sowie die offizielle Residenz des Premierministers. Sicherheitskräfte versuchten nach Angaben der Polizei zunächst nicht, die Gebäude zurückzuerobern.

Medienschätzungen zufolge nahmen mehr als 100.000 Teilnehmer an den Massenprotesten am Samstag teil.
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Demonstranten drohen mit landesweiten Streiks

Bei einem Treffen am Montag hätten Parteichefs und andere politische Führer beschlossen, dass das Parlament von Sri Lanka am 20. Juli einen seiner Abgeordneten zum Nachfolger des derzeitigen Präsidenten Gotabaya Rajapaksa wählen werde, berichteten örtliche Medien übereinstimmend. Rajapaksa hatte wenige Stunden zuvor bekräftigt, am Mittwoch seinen Posten räumen zu wollen.

Nun wurde entschieden, das Parlament am Freitag einzuberufen. Die Nominierungen für das Amt des Präsidenten sollen am 19. Juli entgegengenommen werden, die Abstimmung sei tags darauf vorgesehen. Die Demonstranten verlangen aber einen sofortigen Rückzug Rajapaksas. Bis dahin wollen sie ihre Proteste fortsetzen. Demonstranten und Oppositionsparteien fordern auch den Rücktritt von Premier Wickremesinghe. Sie drohen mit landesweiten Streiks ab Donnerstag, sollten Premier und Präsident bis dahin ihre Ämter nicht niedergelegt haben. Premier Wickremesinghe hatte am Wochenende seinen Rückzug angeboten, um den Weg für eine neue Regierung unter Beteiligung aller Parteien zu ebnen.

Höhepunkt der Massenproteste

Am Wochenende hatten zehntausende Menschen in Colombo demonstriert. Ihnen gelang es auch, die offiziellen Gebäude zu stürmen. Bilder von Demonstranten im Pool des Präsidentenpalastes gingen um die Welt. Die Ereignisse sind der bisherige Höhepunkt der seit Monaten andauernden Massenproteste. Eine zweite Nacht in Folge spielten die Demonstranten Musik im Präsidialpalast, nutzten Fitnessraum und Schwimmbad.

The Independent

"Aber es geht nicht nur darum, dass der Präsident geht. Dies ist erst der Anfang", sagte Jude Hansana, der seit Anfang April vor der Residenz protestiert. Sie kämpften für umfassendere politische Reformen, die die lähmende Wirtschaftskrise in Sri Lanka eindämmen könnten. Dabei könne eine längere politische Instabilität die Verhandlungen zwischen Sri Lanka und dem Internationalen Währungsfonds über ein Rettungspaket verzögern, sagte der Gouverneur der Zentralbank von Sri Lanka der Nachrichtenagentur Reuters.

Das stark vom Tourismus abhängige Sri Lanka ist wegen der Corona-Pandemie, einer hohen Staatsverschuldung und der gestiegenen Ölpreise in die schwerste Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit 1948 gerutscht. Die Inflation im Land mit 22 Millionen Einwohnern erreichte im Juni 54,6 Prozent, und die Zentralbank hat davor gewarnt, dass sie in den kommenden Monaten auf 70 Prozent steigen könnte. Zwar kündigte die Regierung Reformen an, konnte den Protest bisher aber nicht stoppen. (APA, 11.7.2022)