Wolfgang Zamazal hat nicht immer Kängurus gezüchtet. Er war auch nicht immer Wirtshauspächter auf dem 466 Meter hohen Harzberg, einem beliebten Ausflugsziel im Bezirk Baden. Einst war der heute 54-Jährige vielmehr Leiter der ÖAMTC-Reisebüros sowie privater Reisefirmen. Er fuhr viel um die Welt.

Genau das hat ihn letztlich aber in die Fänge des australischen Wappentiers getrieben, denn als Touristiker verschlug es ihn öfter nach Australien. In den Weiten des nur dünn besiedelten Landes sowie im Zoo von Sydney lernte er die hüpfenden Säugetiere leibhaftig kennen – und verfiel ihnen.

DER STANDARD

"Wenn man sich einmal mit diesen Tieren auseinandersetzt, geht einem das Herz auf", sagt Zamazal. Besucherinnen und Besuchern seiner Kängurufarm am Harzberg in Bad Vöslau – der einzigen privaten Känguruzuchtstation Österreichs, die er und seine Frau zusammen mit dem dortigen Schutzhaus betreiben – will er die Faszination vermitteln, die von den spezifischen Eigenschaften dieser Beuteltiere ausgehe.

Drei Vaginas und zwei Gebärmuttern

Auf großen Tafeln am Rand der Gehege ist denn auch zu lesen, wie die Tiere mit den kurzen Vorderpfoten, den hasenähnlichen Hinterläufen und dem starken Schweif ticken. Etwa, dass sie ein eher unterentwickeltes Sozialverhalten haben und dass sich Männchen und Weibchen nur zur Paarungszeit treffen. Auch von der überraschenden Fähigkeit weiblicher Kängurus zu zeitverzögerter Mehrfachschwangerschaft erfährt man. Tatsächlich verfügen Känguruweibchen über drei Vaginas sowie zwei Gebärmuttern. In einer Gebärmutter können sie einen Embryo sozusagen einfrieren, wenn sie mit einem Jungtier schwanger sind. Sollten sie das eine Baby verlieren, können sie die Blockade des zweiten lösen.

22 Kängurus leben in Zamazals Gehegen.
Foto: sebastian haller

Informieren will Zamazal außerdem über die Bedrohung der Kängurus. Alljährlich werden in Australien etliche Millionen von ihnen getötet – der größte Blutzoll unter Säugetieren weltweit. Im Outback, der ausgedehnten, kargen Wildnis des Landes, gibt es Kängurufangzäune über hunderte Kilometer, in denen sich die Tiere verheddern und dort hilflos verhungern. Auch die starke Schafzüchterlobby bekämpft sie als Nahrungskonkurrenz ihrer Herden und erschießt sie.

Dass Kängurus gleichzeitig als Australiens Symbol und Maskottchen vom Staat hin zum lokalen Fußballklub fungieren, erklärt Zamazal knapp: "Das ist eine Art Hassliebe".

Immer auf dem Sprung

In seiner Kängurufarm herrscht an einem heißen Freitagvormittag Frieden. Die 22 Hüpfer in den Gehegen – neun Rotnacken- und 13 Parmakängurus, darunter sechs Jungtiere – haben sich in den Schatten verzogen. Sie bewegen sich träge, machen mit den Vorderpfoten einen Schritt und ziehen langsam die Hinterbeine nach. Einige hocken vor ihren Futterkisten, mümmeln Maiskolben oder Salat: Kängurus sind reine Pflanzenfresser.

Plötzlich knirscht es jenseits des Zauns, dort, wo der Wald anfängt. Im Parmakänguru-Gehege erschrickt eines der Tiere. Es richtet sich auf, horcht, hüpft hektisch weg. Das alarmiert fünf weitere, sie folgen dem ersten auf dem Fuß. "Öha, Panik", kommentiert Zamazal und erklärt: Als Fluchttiere seien Kängurus sprichwörtlich immer auf dem Sprung. Bei den Parmakängurus, einer der kleinsten, nur bis zu 40 Zentimeter hohen Art, sei das besonders ausgeprägt.

Ausgeprägte Männerfeindschaft

Das Parmakänguru-Gehege ist in zwei Bereiche aufgeteilt. Der mit einem Plastiknetz verstärkte Drahtzaun trennt eine aus einem erwachsenen männlichen Tier und sieben weiblichen Kängurus sowie Jungtieren bestehende Gruppe von einem weiteren, einzelnen Männchen. Dieses sitzt dicht am Zaun, während sich direkt auf der anderen Seite der Pascha aus der gemischten Gruppe aufbaut. Beiden vibriert der Kopf – ein Zeichen von Aufregung –, und sie fauchen einander an.

Wolfgang Zamazal betreibt ein Schutzhaus und eine Kängurufarm.
Foto: sebastian haller

Erwachsene Parmakänguru-Männchen stehen sich feindschaftlich gegenüber, sobald auch weibliche Tiere anwesend sind, sagt Zamazal. Zwei Männchen in einem Gehege zu halten sei dann unmöglich, es komme zu Kämpfen mit schweren Verletzungen bis hin zum Tod. Das sei eine Eigenheit dieser Art, die Gründe dafür seien unbekannt. Bei den größeren, bis zu einem Meter erreichenden Rotnackenkängurus etwa gebe es das nicht.

Für den einsamen Parma-Mann hat Zamazal deshalb einen guten Platz andernorts gesucht. Da Parmas neben Rotnacken zu den beliebtesten Känguruarten in mitteleuropäischen Zoos gehören, war das nicht allzu schwer. Privatpersonen rät der Züchter von einem Känguru als Haustier ab. Die Tiere seien scheu, sie würden Menschen nicht nahe an sich heranlassen.

Känguru im Wohnzimmer

Auch könne man im Fall einer Erkrankung nicht einfach den nächsten Tierarzt konsultieren, wie mit einer Katze oder einem Hund: "In Europa gibt es keine einheimischen Beuteltiere, also sind Veterinäre für diese in der Regel nicht ausgebildet." In Känguru-Gesundheitsfragen arbeitet Zamazal deshalb mit der tierärztlichen Ordination des Zoos Schönbrunn zusammen.

Was die Scheu vor dem Menschen angeht, bestätigen indes Ausnahmen die Regel. Am Harzberg heißt der Sonderfall Felix: ein einjähriges Parmakänguru, das im Wohnzimmer der Zamazals lebt. Felix schläft in einem Katzenkorb und spielt mit dem Hund Keks, besucht allabendlich seine Artgenossen im Gehege und kehrt nachts in seinen weichgepolsterten Korb zurück. Er frisst auf der Couch Salat, während die menschlichen Hausbewohner fernsehen oder auf dem Ergometer trainieren – und, ja, er verrichtet auch seine Notdurft auf dem Teppich. Zum Glück stinke der Kot des Pflanzenfressers nicht, meint sein Besitzer.

Importierte Kängurumilch

Felix’ erste Lebensmonate waren dramatisch. 48 Stunden nachdem er dem Beutel seiner Mutter entstiegen war, entkam er aus dem gesicherten Gehege. "Vier Tage später hat man ihn uns ziemlich tot zurückgebracht", schildert der Züchter. Das kleine Tier sei über und über von Zecken befallen gewesen.

Felix ist ein einjähriges Parmakänguru, das im Wohnzimmer der Zamazals lebt.
Foto: sebastian fellner

In den Beutel der Mutter konnte Felix nicht zurück, dazu fehlte ihm die Kraft – und Kängurumütter helfen ihren Jungen dabei nicht. Also sprangen die Menschen ein. Sechs Monate lang trugen die Zamazals das Kängurubaby in einem ausgepolsterten Leineneinkaufssack mit sich herum und fütterten es alle drei Stunden, auch nachts. Die für Felix überlebensnotwendige Kängurumilch bezogen sie aus den Niederlanden, wo sie von Spezialisten nach australischer Vorlage nachgebaut wird. Ein Import aus Down Under in die EU wäre nicht gestattet.

Die beiden Menschen haben im Lauf der anstrengenden Zeit ein emotionales Verhältnis zu dem Känguru entwickelt: "Ja, der Felix ist Familie", sagt Zamazal. Ob es sich bei dem Tier ähnlich verhält, ist schwer zu erkennen. Immerhin dürfte sich Felix im Wohnzimmer wohlfühlen – und aus Australien ist bekannt, dass Kängurus, die von Menschen aufgezogen wurden, bei diesen oft auch bleiben. (Irene Brickner, 12.7.2022)