Es beginnt mit einem Beat per Mausklick. Darüber vier Akkorde, locker aus dem Handgelenk ins Keyboard eingespielt. Ein paar Wiederholungen reichen, schon steht die Melodie. "Ich bin immer etwas nervös, wenn jemand neben mir sitzt", sagt Kayou. Und während er weiter Teile in sein Puzzle einbaut, das ein Song werden soll, redet er von Sidechains und Filtern, von Musiktheorie und Reverb, von Samples und Snares. Musikproduktion ist Raketenwissenschaft, wenn man sich nicht auskennt.

Kayou ist nicht sein richtiger Name, den will der junge Wiener auch nicht preisgeben. Er lässt lieber Zahlen für sich sprechen. Fast 160.000 Abonnenten bei Youtube, über eine Million monatliche Hörer bei Spotify. Und womit? Mit "Lofi"-Sounds – also genau dem Gegenteil von "Hifi". Aber was genau soll das sein? Sie fragen sich zu Recht.

Lofi steht für "Low Fidelity" und bezeichnet übergreifend Musik, die mit simplem Equipment aufgenommen wurde oder zumindest so klingt. Das bedeutet nicht, dass hinter den Songs keine Mühe steckt oder dass sie musikalisch minderwertig sind. "Es geht eher darum, dass sie beispielsweise den Sound einer Schallplatte haben, die auf einem alten Plattenspieler abgespielt wird", erklärt Kayou.

Meditative Wirkung?

Das ist aber nicht die einzige Facette. Die Musik darf nicht zu kompliziert sein. "Ein paar Akkorde als Basis, so mache ich das meistens", sagt Kayou. Dazu eine einfache Schlagzeugspur, eine schöne Melodie, alles in einem niedrigen Tempo abgespielt. Obendrauf packt Kayou den Effekt Reverb, damit es klingt, als würde es in einem großen Raum abgespielt. Und die Effekte dürfen nicht fehlen. Das künstliche Rauschen einer Schallplattennadel, das ein oder andere Wuuuusch.

Lofi wird von vielen eine fast meditative Wirkung zugeschrieben. "Beats to relax/ study to" steht oft als Erklärung dabei. Nebenbei arbeiten, lernen oder sogar einschlafen, das ist die Devise. Gesangseinlagen sind in den Songs nicht gern gesehen. "Bei klassischen Lofi-Songs verwende ich, wenn überhaupt, nur atmosphärische Vocals", sagt Kayou.

Aber funktioniert das wirklich? "Vorneweg: Musik wirkt auf jeden anders", sagt der Musiktherapeut Klemens Wolf. "Lofi als die ultimative Musik zum Lernen und zum Arbeiten zu bezeichnen ist daher ein Werbegag."

Die Ästhetik des Bildes ähnelt "Lofi Girl" schon sehr. Das ist auch Absicht – denn das Auge hört bekanntlich mit.
Foto: Kayou/Ameily

Dass Musik dabei helfen kann, sich zu konzentrieren, davon ist Wolf aber überzeugt. "In der Psychologie bedeutet das nichts anderes als seine Aufmerksamkeit gezielt auf eine Sache lenken zu können. Und das kann man nur, wenn man entspannt ist", sagt er. Und welche Musik entspannt, dafür gibt es Kriterien.

Riesige Szene auf Youtube

"Sie darf uns nicht in Beschlag nehmen, sie darf keine Dramaturgie aufweisen, keine Hörerwartungen aufbauen." Wenn wir Musik hören, funktioniert das auf drei Zeitebenen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir verarbeiten die gerade abgespielten Töne, verknüpfen sie mit denen, die wir im Moment hören, und bereiten uns im Kopf darauf vor, was noch kommt. "Alle meine Entchen …" reicht – und Sie spielen sofort die Melodie im Kopf weiter.

"Entspannungsmusik darf aber nur im Moment funktionieren. Sie darf keinen Gesang enthalten, der ist zu emotional. Es dürfen keine Wiederholungen vorkommen, sonst erwarten wir die bestimmte Melodie immer wieder. Gute Entspannungsmusik hat man danach nicht mehr exakt im Kopf." Diese Kriterien erfüllt Lofi nicht immer, das stört Wolf aber nicht. "Wem es hilft, umso besser. Aber Wundermittel gibt es nur in der Werbung."

Auf Youtube ist Lofi-Musik eine riesige Szene. Der bekannteste Kanal "Lofi Girl" hat 10,6 Millionen Abos. "Lofi Girl" bietet einen 24/7-Stream an. Wann immer man auf das Profil klickt, gibt es neue Musik. Künstlerinnen und Künstler schicken ihre Alben an den Kanal, der sie dann hoffentlich spielt. Kayou hat das in der Vergangenheit getan, um sich einen Namen zu machen. Heute veröffentlicht er nur noch auf seinem eigenen Kanal.

An einem gewöhnlichen Donnerstagmorgen sind fast 30.000 Zuschauerinnen und Zuschauer bei "Lofi Girl" anzutreffen. Unten rechts im Chat haben sie die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen. "I’m listening to this while coloring", schreibt eine. "Your identity is much more than existing online", ein anderer. Manche tippen ihre Sorgen in das Feld, viele wünschen nur einen guten Morgen, wenn sie "eintreten". Es entstehen Dialoge, die Leute kennen sich, sie begrüßen einander herzlich, wenn jemand nach langer Abstinenz wieder zurückkommt.

Neben "Lofi Girl" gibt es noch etliche andere Kanäle, die Lofi-Musik oder -Streams anbieten. Ebenfalls beliebt ist Lofi-Musik, die mit Regen hinterlegt worden ist. Raining in Osaka haben mittlerweile über 2,8 Millionen Menschen gesehen und gehört. Es gibt spezielle Playlists für lange Autofahrten, Lofi mit Gitarre, "Code-fi", extra für Programmierer gebastelt oder mit Meeresrauschen für die Extraportion Sommerfeeling. Wahrscheinlich Spitzenreiter: Anime-Soundtracks, die in Lofi-Tracks verwandelt wurden.

Doch es geht nicht nur um die Musik. Auch für das Auge muss etwas dabei sein, meist im gezeichneten Anime-Stil, man kennt seine Hörerschaft. "Lofi Girl" bietet das vielleicht ikonischste Bild des Lofi-Universums: Ein Mädchen sitzt mit seinen Kopfhörern, auf die Kulleraugen geklebt sind, am Schreibtisch und füllt sein Tagebuch. Im Hintergrund sitzt eine Katze, die hinaus auf eine Stadtszenerie blickt, die sich je nach Tageszeit und Wetter verändert.

Oida!

Auch Kayou weiß um die Strahlkraft des Bildes und hat deswegen die Künstlerin Ameily darum gebeten, ihm ein ähnliches Bild zu malen. Nun sitzt Kayou im Video Lofi in Vienna mit Diamanten auf die Wange tätowiert genauso da wie Lofi Girl, im Hintergrund ist der Stephansdom zu sehen, rechts steht in Neonfarben "OIDA!".

Noch hat Kayou einen Job neben der Musik. Die Einnahmen, die er durch Youtube und Spotify bekommt, will er noch ein paar Jahre in das Marketing seiner Musik reinvestieren, um dann bald davon leben zu können, wenn alles nach Plan läuft.

Bis zum Ende unserer Session hat er einen für mich gefertigten Lofi-Song produziert. "Ich werde noch ein wenig daran feilen, aber im Grunde bin ich damit sehr zufrieden", sagt er. Und beim finalen Abspielen ergibt der Mix aus Sidechains und Filtern, aus Musiktheorie und Reverb, aus Samples und Snares endlich Sinn. (Thorben Pollerhof, 12.7.2022)