Rosa Diketmüller: "Die Frage, ob etwas noch Spaß ist oder schon Ernst, stellt sich in Wahrheit überhaupt nicht."

Uni Wien

Der Grand Prix von Österreich wurde am Wochenende von Berichten über Sexismus, sexuelle Belästigung sowie homophobe und rassistische Äußerungen auf den Tribünen überschattet. Rosa Diketmüller ist Assistenzprofessorin am Institut für Sportwissenschaften der Uni Wien und Expertin im Bereich sexualisierte Gewalt im Sport. Sie hat sich Gedanken gemacht.

STANDARD: Wie sehr sind Sie überrascht darüber, dass just in der Formel 1, die zuletzt viele positive Geschichten geschrieben hat, nun Schlagzeilen von Sexismus und Übergriffen beim Großen Preis in Spielberg dominieren?

Diketmüller: Eigentlich bin ich nicht überrascht. So positiv die sportlichen Storys zuletzt auch waren – die Formel 1 ist ein Feld, das so männlich besetzt ist wie kaum ein anderes. Die Hierarchien sind klar geregelt, es gibt ausschließlich männliche Athleten, keine einzige Fahrerin. Mit Monisha Kaltenborn gab es bei Sauber ein paar Jahre lang immerhin eine Teamchefin, insgesamt hat das wenig verändert. Frauen sind in der Formel 1 kaum sichtbar. Ein guter Teil des Publikums nimmt das so wahr, dass Männer höherwertiger sind als Frauen.

STANDARD: Und das führt dazu, dass ganze Dutzend- oder Hundertschaften frauenfeindliche Gesänge anstimmen? Und dass es auch zu körperlichen Übergriffen kommt?

Diketmüller: Da kommt viel zusammen. Wohl auch die Tatsache, dass Reisen, die es durch Corona längere Zeit kaum gab, auch in großen Gruppen wieder möglich sind. Und dass der Alkohol in Strömen fließt. Alkohol löst die Zunge. Aber das alles darf keine Entschuldigung sein.

STANDARD: Der Fußball hat es in vielen Ländern zumindest in den oberen Ligen geschafft, dass Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Rassismus seltener zutage treten. Wieso hinkt die Formel 1 nach?

Diketmüller: Der Fußball hat eine längere Tradition, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Da wird fast seit Jahrzehnten dagegen angekämpft, Woche für Woche. Und dieser Kampf hat zunehmend Erfolg. Auch weil der Fußball unzählige Kampagnen lanciert hat. In diese Richtung muss auch die Formel 1 noch viel mehr tun, das vermisse ich. Die Reaktion etlicher Teams auf die Vorfälle in Spielberg hat mir wiederum gut gefallen, da wurde schnell und klar und eindeutig kommuniziert.

STANDARD: Diese schnelle Reaktion hat auch den Schluss nahegelegt, dass die Formel 1 nicht zum ersten Mal dieser Thematik gegenüberstand. Viele Nachrichten in den sozialen Medien haben diesen Eindruck noch verstärkt.

Diketmüller: Das ist gut möglich. Das Spiel hat auch andere Regeln bekommen. Bis vor fünf Jahren gab es die Grid Girls, die gemeinhin als Boxenluder bekannt waren – allein der Begriff hat schon sehr viel über das Frauenbild der Formel 1 ausgesagt. Jetzt kanalisiert sich einiges möglicherweise woanders hin. Oft hört man nach sexuellen Belästigungen oder Übergriffen, es wäre alles nur Spaß und nicht so gemeint gewesen. Doch die Frage, ob etwas noch Spaß ist oder schon Ernst, stellt sich in Wahrheit überhaupt nicht. Schließlich geht es nicht darum, wie jemand empfindet, der eine bestimmte Aktion setzt, sondern entscheidend ist, wie diese Aktion dort empfunden wird, wo sie ankommt.

STANDARD: Was kann die Formel 1 tun? Ein Alkoholverbot auf dem Veranstaltungsgelände einführen?

Diketmüller: Ich weiß nicht, ob das wirklich helfen würde. Viele campierende Fans haben ja schon vollgefüllte Kühlschränke mit. Ob es dann auf dem Veranstaltungsgelände Alkohol gibt, ist vielleicht gar nicht mehr so wichtig.

STANDARD: Was wäre wichtiger?

Diketmüller: Wie gesagt, Kampagnen würden sicher helfen, ein Bewusstsein zu schaffen. Und der Frauenanteil auch im Publikum könnte höher sein. Da hat sich im Fußball einiges getan. Wo mehr Frauen sind, ist Sexismus seltener. Der Druck auf Vereine und Verbände ist jedenfalls höher geworden. Organisationen sind gefordert, nachzuweisen, dass sie etwas gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus tun. Vor allem auch Organisationen, die von öffentlichen Geldern oder Unterstützung profitieren. Das ist gewiss auch bei der Formel 1 der Fall. Dazu kommt, dass die MeToo-Bewegung viel bewegt hat. Die Standards dessen, was wie wahrgenommen wird, haben sich verschoben. Was vor einigen Jahren noch als Ausrutscher gegolten hat, wird jetzt oft nicht mehr hingenommen. Und es ist gut, dass Betroffene aufzeigen, was ihnen widerfahren ist.

STANDARD: Sie zeigen es auf, aber sie zeigen es nicht an. Die Polizei hat nach dem Formel-1-Wochenende vermeldet, dass es überraschend ruhig verlaufen und zu keinen Anzeigen gekommen sei.

Diketmüller: Anzeigen sind natürlich mit Mühe, Stress und Zeitaufwand verbunden. Und die Erfolgsaussichten sind oft gering, oft würde Aussage gegen Aussage stehen, man bräuchte im besten Fall mehrere Zeugen.

STANDARD: Kann man von Einzelnen, die sich in einer Horde sexistisch grölender Fans befinden, verlangen, dass sie dagegen aufstehen?

Diketmüller: Ja, das kann man. Zivilcourage ist heute wichtiger denn je. Und wahrscheinlich würden die Einzelnen feststellen, dass sie gar nicht so alleine sind, wie sie glauben. Denn die Mehrheit ist ja nicht sexistisch oder homophob oder rassistisch. Ich würde meinen, auch die Mehrheit auf den Formel-1-Tribünen in Spielberg ist es nicht. Viele spielen einfach nur mit, damit sie das Gefühl haben, dazuzugehören. In der Literatur spricht man von der Angst, die letzte Arena der Männlichkeit zu verlieren. Doch das ist eine Arena der toxischen Männlichkeit. Die Formel 1 muss sich fragen: Wie muss eine Tribüne aussehen? Wie muss ein Raum aussehen, damit auch Frauen, Homosexuelle und Schwarze gerne in diesen Raum kommen und sich dort wohlfühlen? (Fritz Neumann, 11.7.2022)