Die purpurnen Kelche der neu entdeckten Kannenpflanze Nepenthes pudica sind Todesfalle und Lebensraum.

Foto: Martin Dančák

Dschungel bedeckt den Nordosten der Insel Borneo. Dort, im tiefen Unterholz, machten Botanikerinnen und Botaniker einen Zufallsfund. Der Expedition um den tschechischen Botaniker Martin Dančák fiel ein besonderes Blattwerk ins Auge: das einer Kannenpflanze. Diese Art der fleischfressenden Pflanzen besitzt spezielle Blätter, die zu kelchartigen Insektenfallen umgebildet sind. Doch bei diesem Exemplar fehlte von den Fallen jede Spur.

Unterirdische Jägerin

Als sich die Sichtungen von kannenlosen Kannenpflanzen häuften, war die Neugierde der Forscher endgültig geweckt. Erst der Fund eines ungewöhnlichen Kelchs, der aus der Erde hervorlugte, gab den Wissenschaftern den entscheidenden Hinweis. Die Kannen der rätselhaften Pflanze verbergen sich unter der Erde. Nun sind unterirdische Fallen nichts Ungewöhnliches im Pflanzenreich: Einige fleischfressende Pflanzen jagen so nach Bodenbewohnern.

Im losen Erdreich des indonesischen Dschungels warten Kelche auf Opfer. Einmal hineingestürzt, gibt es für die meisten Insekten kein Entkommen.
Foto: Martin Dančák

Deren Fallen sind jedoch meist sehr klein und etwa auf Mikroorganismen ausgelegt. Von Kannenpflanzen hingegen war diese Jagdstrategie bisher nicht bekannt. Darüber hinaus sind die Fallen der ungewöhnlichen Kannenpflanze aber genauso groß wie die ihrer weiter verbreiteten Verwandten. Ein Unterschied besteht in der Wandstärke: Da sie unter der Erde einem höheren Druck ausgesetzt sind, haben die Kannen dickere Wände.

Fressen oder bestäuben

Die unterirdischen Kelche sind mit einer sauren Flüssigkeit voller Verdauungsenzyme gefüllt. Fällt oder krabbelt ein Insekt oben hinein, gibt es kein Entkommen: Die Innenwände der Kelche sind extrem glatt, sodass sogar Insektenfüße keinen Halt mehr finden. Innerhalb weniger Tage verdaut die Pflanze ihre Opfer und bekommt so wertvolle Nährstoffe wie etwa Stickstoffverbindungen.

Die Kannenpflanze muss dabei den gleichen Widerspruch lösen, der viele fleischfressende Pflanzen betrifft. Einerseits sind Insekten Futter, andererseits bestäuben sie die Blüten der Carnivoren. Darum sind beispielsweise die Blütenstände der Venusfliegenfalle so lang: So stellt das Gewächs sicher, dass die Fliege, die ihren wertvollen Pollen fortträgt, nicht sofort von einer ihrer Fallen verschlungen wird. Unterirdische Fallen laufen noch weniger Gefahr, bestäubende Fluginsekten zu fangen – ein evolutionärer Vorteil.

Die botanische Zeichnung zeigt die verschiedenen Teile der Kannenpflanze N. pudica. Ersichtlich ist, dass die Pflanze manchmal auch überirdische Kannen treibt.
Zeichnung: Kateřina Janošíková

Todesfalle und Lebensraum

In den Kannen der neu beschriebenen Art fanden die Forscher dutzende Spezies. Als Beute scheinen die Pflanzen Ameisen zu bevorzugen. Doch die unterirdischen Kelche sind nicht nur Todesfallen: Mehrere Fadenwürmerarten und Moskitolarven nutzen die Flüssigkeit als Lebensraum. Erstaunlicherweise überstehen diese kleinen Tiere die unwirtlichen Bedingungen im Verdauungssaft der Pflanze. Die Kelche stellen somit wertvolle Wasserreservoire dar, die vor allem in Trockenzeiten einen Brutplatz für verschiedene Insekten bieten. Die Fallen können also auch ein Ort des Lebens sein.

Trotzdem verbirgt die Kannenpflanze ihre Fallen unter der Erde, als ob sie sich für die Mordwerkzeuge schämen würde. Dieser Schamhaftigkeit, auf Latein pudicitia, verdankt die Pflanze auch ihren Namen: Nepenthes pudica. Der Zufallsfund ruft erneut ins Gedächtnis, wie groß die Biodiversität des Regenwalds ist: Man stolpert buchstäblich über neue Arten. (Dorian Schiffer, 13.7.2022)