Die Asylentscheidungen von Vizepräsident Sachs am Bundesverwaltungsgericht sind umstritten. Der Verfassungsgerichtshof stellte im Fall eines schwulen Asylwerbers zwei Mal grobe Fehler fest.

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Hebt ein Höchstgericht das eigene Urteil auf, ist das für einen Richter oder eine Richterin keine angenehme Sache. Solche "Heber" kommen nicht oft vor, und wenn, dann geht es entweder um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung oder es ist in der Entscheidung etwas grob schiefgelaufen. Aber gleich zwei Heber in einem Verfahren – das ist für den Betroffenen eine "juristische Watsche", wie man in Fachkreisen sagt.

Eine solche Ohrfeige hat sich ein Richter des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) im März dieses Jahres abgeholt, der erst kürzlich in ganz anderem Zusammenhang in die Schlagzeilen geriet: Es handelt sich um Michael Sachs, den türkisen Favoriten für die Leitung der Bundeswettbewerbsbehörde, dessen Bestellung dorthin von den Grünen spektakulär blockiert worden war.

Rechtslage "grob verkannt"

Im aktuellen Fall brauchte es gleich zweimal den Verfassungsgerichtshof (VfGH), um die negative Asylentscheidung gegen einen schwulen Mann aus Bangladesch zu korrigieren. Nachdem dessen Asylantrag 2018 von der Behörde abgelehnt worden war, blieb auch eine Beschwerde beim BVwG erfolglos. Der Bangladescher wandte sich schließlich an den VfGH. Dort beurteilten die Höchstrichterinnen und Höchstrichter die Asylentscheidung als willkürlich: Es war nicht einmal geprüft worden, ob dem Mann bei einer Rückkehr nach Bangladesch Verfolgung droht. In dem Land steht auf Homosexualität bis zu lebenslange Haft.

In einer zweiten Verhandlung stellte BVwG-Richter Sachs dann fest, dass dem Mann im Fall einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich "eine konkret gegen seine Person gerichtete Verfolgung droht". Asyl erteilte er trotzdem nicht. Der Asylwerber wandte sich also ein zweites Mal an den VfGH – und der zog in letzter Instanz wieder die Reißleine: Sachs habe die Rechtslage "grob verkannt". Zehn Tage später bekam der Mann schließlich ohne weitere Verhandlung Asyl.

Kein Unbekannter

Sachs ist in Fachkreisen kein Unbekannter: "Allein mit unseren Klientinnen und Klienten zählen wir circa 20 Heber durch Höchstgerichte bei ein und demselben Richter", sagt Ralph Guth von der Beratungsorganisation Queerbase. Seit 2015 wurden insgesamt 30 der Entscheidungen Sachs’ von Höchstgerichten aufgehoben – ein höherer Schnitt als bei seinen Kollegen. Bei fast der Hälfte der aufgehobenen Entscheidungen ging es um das Thema Homosexualität in Bangladesch.

Sachs selbst hat sich bis Redaktionsschluss nicht dazu geäußert, der Fall zeigt aber ein Problem auf, das viele Asylanwälte seit Jahren kritisieren: "Was da gemacht wird, ist, Menschen negative Asylentscheidungen zu geben und zu schauen, ob sie sich den Gang zum Höchstgericht leisten können", sagt Guth.

Unterschiedliche Praxis

Dazu komme eine vorgefertigte Meinung einzelner Richter, die bestimmte Fluchtgeschichten einfach nicht glauben. "Da gibt es zum Beispiel eine Richterin, die entscheidet jeden Konvertiten negativ", sagt ein Jurist, der noch viele Fälle vor dem BVwG verhandeln muss und deshalb lieber anonym bleiben will. Gemeint sind Asylwerber, denen Verfolgung droht, weil sie etwa zum Christentum konvertierten. "Ich kann Ihnen anhand des Richters im Vorhinein sagen, ob ein Fall positiv oder negativ entschieden wird", sagt Guth. Mehrere andere Juristinnen, die im Bereich Asyl arbeiten, bestätigen das.

"Die Entscheidungen können bei sehr ähnlich gelagerten Fällen unterschiedlich ausfallen", sagt etwa Sarah Moschitz-Kumar, Rechtsanwältin aus Graz. "Manche Richter erteilen häufig internationalen Schutz, andere äußerst selten." Da die Verfahren den Richtern zugeteilt werden, werden Entscheidungen über die Zukunft zur Frage des Glücks. "Eines darf man dabei nie vergessen", sagt Moschitz-Kumar. "Letztlich geht es in den Verfahren um Menschenleben."

Zugang zu Rechtsweg beschränkt

In vereinzelten Fällen heben der Verwaltungsgerichtshof oder der Verfassungsgerichtshof problematische Entscheidungen auf, allerdings bei weitem nicht alle, erklärt Julia Ecker, Rechtsanwältin aus Wien.

Der Zugang zu den Höchstgerichten ist beschränkt, die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts prüfen sie daher nur in Ausnahmen – etwa dann, wenn das Verfahren eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betrifft oder wenn die Richterin am BVwG in ihrer Entscheidung die Rechtslage grob verkannt oder sonst Willkür geübt hat. "Man kann sich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass die Höchstgerichte negative Entscheidungen korrigieren", sagt Ecker.

Reform der Ausbildung?

Das BVwG verweist in einer Stellungnahme auf die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter. Erhebungen über abweichende Quoten bei ähnlich gelagerten Fälle werden am Gericht offenbar nicht geführt. Unabhängige NGOs versuchen allerdings öffentliche Daten auszuwerten – nicht zuletzt, um ihre Klienten auf möglicherweise aussichtslose Prozesse vorzubereiten.

Dass die Entscheidungen der Richterinnen und Richter in ähnlichen Fällen unterschiedlich ausfallen, hat laut Ecker womöglich auch mit ihren individuell sehr unterschiedlichen Qualifikationen zu tun. Straf- und Zivilrichter werden anhand strenger Kriterien für eine spezielle, zentral vorgegebene, grundsätzlich vierjährige Ausbildung ausgewählt und müssen danach eine umfassende Prüfung ablegen.

Bei Verwaltungsrichtern ist das anders: Voraussetzung ist im Wesentlichen ein juristisches Studium und eine zumindest fünfjährige Berufserfahrung. Aus Sicht von Ecker wäre es sinnvoll, die Zulassung und Ausbildung von Verwaltungsrichtern an jene von Straf- und Zivilrichtern anzugleichen.

BVwG-Präsidium ausgeschrieben

In eine ähnliche Kerbe schlagen die Neos. Sie fordern eine verpflichtende Ausbildung für neu ernannte Richterinnen und Richter. Das BVwG sieht auf Anfrage dagegen keinen Reformbedarf. Die Richterinnen und Richter seien aufgrund ihrer langjährigen Praxis "hochqualifiziert". Für die Fort-und Weiterbildung bestehe ein umfangreiches Bildungsangebot. Das Justizministerium betont auf Anfrage, dass die Richterausbildung "fortlaufend evaluiert" werde.

Brisant ist die Debatte auch deshalb, weil immer wieder Personen aus politischen Kabinetten an das BVwG wandern. Sachs war unter anderem Kabinettschef von Wolfgang Schüssel (ÖVP) in den 1990er-Jahren. Dem jetzigen BVwG-Vizepräsident werden auch Ambitionen auf das Präsidium nachgesagt. Sachs selbst hat sich bis Redaktionsschluss nicht dazu geäußert. Jedenfalls handelt es sich um eine Personalie, die im Sideletter der türkis-grünen Koalition unter ÖVP vermerkt war. Die Stelle ist seit Montag öffentlich ausgeschrieben. (Laurin Lorenz, Jakob Pflügl, Johannes Pucher, 12.7.2022)