Marco Haller über die Tour: "Es ist nach wie vor unser Champions-League-Finale, unser Superbowl, unser Stanley Cup."

Foto: IMAGO/Tor Erik Schroder

Als starker Helfer überzeugt Marco Haller bei der Tour de France. Im Peloton gehört der 31-jährige Kärntner mittlerweile zum Stammpersonal. Vor den Alpen-Etappen telefonierte er mit dem STANDARD.

STANDARD: Sie kommen gerade von einer kurzen Regenerationseinheit, die erste Tour-Woche ist vorbei. Wie fällt Ihr Fazit aus?

Haller: Es war eine klassische Tour-de-France-Eröffnungswoche. Wie jedes Jahr sind die Stürze Teil des Ganzen. Es ist Business as usual.

STANDARD: Konkret für Bora-Hansgrohe lief es mit Kapitän Alexandr Vlasov unglücklich. Führt das zu einem Umdenken bezüglich der Zielsetzung, einer Podiumsplatzierung?

Haller: Um die Taktik komplett über den Haufen zu werfen, ist es zu früh. Sein Sturz ist zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt passiert, weil am nächsten Tag der erste richtige Test für die Klassementfahrer war, die Planche des Belles Filles hoch. Vom Timing hätte es besser passen können, aber er hat gekämpft und den Anschluss nicht komplett verloren. Es ist noch alles möglich, der Ruhetag spielt uns in die Karten. Wir sind vielseitig aufgestellt.

STANDARD: Das heißt, gezielt Nadelstiche in Form von Etappensiegen zu setzen?

Haller: Das eine schließt das andere nicht aus. Es werden härtere Etappen kommen, bei denen Vlasov versuchen wird, mit den Favoriten mitzufahren. Vielleicht gelingt es ihm, dabei Sekunden rauszufahren. Daneben sind Lennard Kämna, Maximilian Schachmann oder bei Überführungsetappen Nils Politt prädestiniert für einen Etappensieg.

STANDARD: Bora-Hansgrohe nennt sich "Band of brothers". Wie ist das Innenleben des Teams?

Haller: Wir verbringen fast einen ganzen Monat zusammen, nicht nur auf dem Rad, auch auf dem Zimmer, im Bus, beim Essen. Da ist es von Vorteil, wenn man sich gut untereinander versteht. Das ist bei uns zum Glück der Fall. Man bleibt gerne mal eine halbe Stunde länger sitzen beim Abendessen, da rennt der Schmäh, man lässt die Etappe Revue passieren oder redet kompletten Humbug. Das macht die Atmosphäre besonders.

STANDARD: Wie sehen Sie sich selbst in der "Band of Brothers"? Was für ein Bruder sind Sie?

Haller: Ich bin in unserem Aufgebot derjenige mit den meisten Tour-de-France-Teilnahmen. Trotzdem muss ich einem Kämna nicht erklären, wie das Radfahren geht. Vlasov fährt seine erste Tour und ist trotzdem ein Weltklassefahrer. Letzten Endes ist die Tour de France auch nur ein Radrennen. Nichtsdestotrotz ist es ein Vorteil, wenn ich etwas Erfahrung einbringen kann. Wenn es zu viel Zirkus wird, stehe ich gerne mit Expertise und Coolness zur Seite.

Marco Haller im Windschatten von Tadej Pogacar.

STANDARD: Stichwort Zirkus: Sie sagten, die Tour de France sei Ihr Superbowl. Ist das im siebenten Jahr immer noch so?

Haller: Es ist nach wie vor unser Champions-League-Finale, unser Superbowl, unser Stanley Cup. Es ist das größte Radrennen der Welt. Ich habe lange auf mein Ticket warten müssen und wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn ich zu Hause hätte bleiben müssen. Ich möchte auch die nächsten Jahre unbedingt am Start stehen, für mich gibt es nichts Cooleres.

STANDARD: Gibt es denn Ziele, die Sie sich für die Zukunft setzen? Radsport kann unfair sei, auf dem Podium stehen immer nur drei Fahrer.

Haller: Radsport ist ein Teamsport. Mir ist es fast wurscht, wenn ich da nicht selbst oben stehe. Für mich ist es genauso Gewinnen, wenn ich mithelfen kann, Vlasov aufs Podium zu bringen oder bei einem Etappensieg von Politt, Kämna oder Konrad dabei zu sein.

STANDARD: Sie fahren für die Kollegen und stellen eigene Ambitionen hintenan. Sind Sie ein bodenständiger Sportler?

Haller: Wenn bei uns acht Mann am Start stehen würden, und alle träumen davon, zu gewinnen, würde das auch nicht funktionieren. Dann gäbe es niemanden, der Flaschen holt oder nach einem Unfall wartet. Beim Fußball können auch nicht alle elf Stürmer spielen. Ich bin glücklich damit, im Mittelfeld die Schalter umzulegen.

STANDARD: Spielen Sie auch deshalb in Ihrer Freizeit Golf, weil dabei das Ich im Mittelpunkt steht?

Haller: So habe ich das noch nicht gesehen, aber man lernt sich definitiv selbst ein bisschen besser kennen. Ich bin noch jung im Golfsport und noch dabei, das Handicap runterzuspielen. Aber es macht irrsinnig viel Spaß, Schlag für Schlag vor neue Herausforderungen gestellt zu werden.

STANDARD: Sie sagten mal, der Radsport wird die neue Formel 1. Material und Ausstattung wird immer wichtiger. Wie betrachten Sie diese Entwicklung?

Haller: Das finde ich sehr gut, man sollte sich in allen Bereichen weiterentwickeln. Man stelle sich vor, wir würden noch mit Rahmenschaltung und Riemen fahren! Ich finde das eine notwendige Weiterentwicklung.

Das Team beim Tour-Start in Dänemark.
Foto: Reuters/Fuentes

STANDARD: Ein Melancholiker scheinen Sie nicht zu sein. Weinen Sie dem Purismus keine Träne nach?

Haller: Nein, sicher nicht. Mit dem Schlauch um den Hals fahren und Defekte selbst beheben – nein danke.

STANDARD: Statt mit Schlauch um den Hals fahren Sie aber mit Corona auf der Schulter. Geht die Angst im Peloton um?

Haller: Es ist natürlich ein Thema, das alle sehr anspannt. Man ist nervös, was passiert, wenn man Covid bekommt. Muss man dann heim? Die Regelung bei positiven Fällen ist schwammig, selbst bei zwei positiven Strichen. Es geht darum, sich auf die Ärzte zu verlassen, denn einen kranken Radfahrer würde man ohnehin nicht starten lassen, ob mit Covid oder Schlüsselbeinbruch. Um Paris zu sehen, muss man gesund sein. Es ist Teil unseres jetzigen Lebens. Warum sollten wir davon verschont bleiben, Gesundheitspersonal aber nicht?

STANDARD: Sie selbst haben sich das Virus Anfang diesen Jahres eingefangen. Haben Sie es gut überwunden?

Haller: Die erste Infektion war arg, die zweite hingegen nur ein Streifschuss. Nach der ersten Infektion war ich wirklich krank, deshalb sollte man das Thema sehr ernst nehmen.

STANDARD: Zurück zu schöneren Dingen: Seit April sind Sie verheiratet. Welche Rolle spielt Ihre Familie – gerade während der Tour?

Haller: Die Familie ist die Konstante, die es seit jeher gibt. Ich bin glücklich, dass mich meine Frau so gut unterstützt und zu den Rennen kommt, wenn es möglich ist. Sie ist der Rückhalt, den ich brauche.

STANDARD: Sportlich ist dies Ihr sportlicher Leiter Bernhard Eisel?

Haller: Er ist mein bester Freund und ein ehemaliger Rennfahrer, den ich sportlich wie menschlich sehr schätze. Mit seinem Know-how kann er jedes Team unterstützen. Umso glücklicher bin ich, dass er das bei Bora-Hansgrohe macht.

STANDARD: Abschließend: Der Ernährungsplan der Tour ist logischerweise kohlenhydratreich, an Pasta und Reis führt kein Weg vorbei. Worauf freuen Sie sich am meisten, nachdem Sie Paris – hoffentlich – erreicht haben?

Haller: Auf die gutbürgerliche österreichische Wirtshausküche. Dann darf es gerne mal ein Schnitzel und ein gutes Bier dazu sein. (Jens Wohlgemuth, 12.7.2022)