Der pandemiebedingte Radfahr-Boom hält an: 2021 wurden in Wien 9,3 Millionen Radfahrende verzeichnet.

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Wien ist im Sommer eine Stauzone. Bezogen ist diese Feststellung gemeinhin auf den Autoverkehr – wegen der traditionell vielen Straßenbaustellen zu dieser Zeit. Zähes Weiterkommen und Fahren in der Kolonne ist aber auch längst an anderer Stelle Realität: auf Radwegen. Besonders in den warmen Monaten stellt sich der Eindruck ein, dass Infrastruktur und Nachfrage längst nicht mehr zusammenpassen.

Und dabei sollen künftig noch mehr Radfahrende unterwegs sein: Immerhin ist es erklärtes Ziel der Politik, die Bevölkerung zum Umstieg auf diese umweltfreundliche Art der Fortbewegung zu bringen – unter anderem mithilfe der soeben beschlossenen Novelle der Straßenverkehrsordnung. Doch wo hakt es in Wien – und warum? Was könnte die Lösung sein? Etwa eine Rückkehr der umstrittenen Pop-up-Radwege?

Fakt ist, dass Wien derzeit einen nie da gewesenen Fahrrad-Boom erlebt. Im Jahr 2012 wurden an den automatischen Zählstellen, die in der ganzen Stadt aufgestellt sind, rund 4,2 Millionen Radfahrende verzeichnet. 2021 waren es bereits 9,3 Millionen – und damit mehr als doppelt so viele. Zwar sind diese Zahlen kontinuierlich gestiegen, der insgesamt große Zuwachs geht aber besonders auf einen deutlichen Sprung zurück: jenen durch die Pandemie. Von 2019 auf 2020 stieg die Zahl der Radlerinnen und Radler um satte zwölf Prozent auf jährlich 9,2 Millionen.

Ein Niveau, das sich halten dürfte: Für Mai vermeldete die Stadt vor kurzem neue Rekordzahlen. "Angesichts der Klimakrise können wir gesellschaftlich enorm froh über diese Entwicklung sein", sagt Roland Romano, Sprecher der Interessenvertretung Radlobby. "Aber es braucht passende Infrastruktur." Was sich derzeit auf Wiens Radwegen bemerkbar mache, seien die Versäumnisse vergangener Jahrzehnte.

Das Problem mit der Länge

Bei dieser gibt es in zweierlei Hinsicht Luft nach oben. Erstens: bei der Länge der Radinfrastruktur. Diese hat in den vergangenen Jahren zugelegt – jedoch bei weitem nicht so stark wie die Zahl der Radfahrerinnen. Wurden im Jahr 2012 exakt 1216 Kilometer baulich getrennte Radwege, auf den Asphalt gepinselte Radstreifen, Fahrradstraßen und dergleichen gezählt, waren es im Jahr 2021 genau 1661 Kilometer. Das ist rund ein Drittel mehr – bei gleichzeitig explodierenden Nutzerzahlen.

Das Resultat: Immer mehr Radfahrerinnen sind vielerorts mit Infrastrukturlücken auf wichtigen Verbindungen konfrontiert, zum Beispiel in Teilen der Alser Straße, der Längenfeldgasse oder der Wallensteinstraße.

Platz ist an gewissen Stellen im Wiener Radnetz Mangelware.
Foto: Christian Fischer

Relevant ist auch, wie der Längengewinn zustande kommt. Nach Kilometern betrachtet sind die größten Brocken im Radnetz verkehrsberuhigte Bereiche wie Begegnungszonen, für Radfahrer geöffnete Einbahnen und sogenannte Radrouten, also für das Radfahren empfohlene Teile des Straßennetzes ohne gesonderten Radbereich. Baulich getrennte Radwege, die ein weitgehend sicheres Radeln ermöglichen und daher laut Fachleuten zu forcieren sind, rangieren auf Platz fünf.

Wie sich dieses Ranking im Zeitverlauf entwickelt hat, wird seitens der Stadt seit 2018 erhoben, aber nicht kommuniziert. Man sei noch damit beschäftigt, diese Daten aufzubereiten, heißt es aus der zuständigen MA 46.

Überholen: Vorschrift ist nicht Realität

Doch bekanntlich zählt nicht nur die Länge, sondern – und das ist die zweite Baustelle – auch die Breite. "Im Regelfall kommt man in Wien auf einem Radweg nicht aneinander vorbei, obwohl es bindend ist", sagt Radlobby-Sprecher Romano. Verschärft wird das Problem dadurch, dass vermehrt breitspurigere Lastenräder unterwegs sind.

Mit "bindend" meint Romano: In der sogenannten technischen Richtlinie Radverkehr – einer für Planer bindenden Handlungsanleitung – ist fixiert, dass Radwege so auszuführen sind, dass "ein Überholen stattfinden kann". Diese Richtlinie schreibt auch konkrete Maße für Radwegbreiten vor, die erst im April hinaufgesetzt wurden: Demnach müssen Einrichtungsradwege mindestens 1,8 und Zweirichtungsradwege mindestens 3,1 Meter breit sein.

Wie die Wiener Radwege hier abschneiden, lässt sich nicht sagen. Denn seitens der Stadt werden dazu keine Zahlen bekanntgegeben. Aus der städtischen Mobilitätsagentur heißt es, dass man dieses und weitere Qualitätsmerkmale laufend evaluiere. Eine von externen Verkehrsplanern durchgeführte Studie dazu wird jedoch nicht veröffentlicht. Die MA 46 argumentiert, dass eine Erhebung der Breiten schwierig sei, weil diese mitunter entlang eines Radwegs stark schwanken würden.

Aus Sicht von Fachleuten der Technischen Universität Wien gilt es, diese Wissenslücke dringend zu schließen: Die Breiten existierender Radwege sollten in einem gesonderten Projekt analysiert werden, empfehlen sie in einer Studie aus dem Jahr 2020.

Geschützte Radstreifen als Ausweg

Einen Versuch, sowohl das Längen- als auch das Breitenproblem rasch in den Griff zu bekommen, unternahm vor zwei Sommern die damalige grüne Verkehrsstadträtin Birgit Hebein. In der Praterstraße, der Lassallestraße, der Hörlgasse und der Wagramer Straße wurden Autospuren mit Pollern oder Betonleitwänden abgetrennt und dem Radverkehr zur Verfügung gestellt. Mit diesen geschützten Radstreifen handelte sich Hebein den Ärger der SPÖ ein – wohl mit ein Grund, warum ihre Nachfolgerin Ulli Sima (SPÖ) davon absieht. Aber könnten Pop-up-Radwege dennoch eine Option sein, um zumindest im Sommer Platz zu schaffen?

Geschützte Radstreifen können vergleichsweise günstig und schnell hergestellt werden.
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Jein, sagt Romano. "Von saisonal begrenzter Infrastruktur halte ich nichts". Nachhaltiger sei es, Sommerradler zu motivieren, das ganze Jahr über durchzufahren – mit entsprechenden Kampagnen und guter, fixer Infrastruktur. Hierfür seien geschützte Radstreifen jedenfalls ein geeignetes Vehikel, denn sie seien sicher, aber günstiger und schneller umsetzbar als baulich getrennte Radwege.

"Es ist Zeit, dass wir das nutzen, was da ist. Den Platz gibt es, er muss nur neu verteilt werden", sagt Romano. Wie das gehen könnte, will die Radlobby im Herbst mit Plänen für Verbesserungen am Ring – einer chronisch überlasteten Strecke – zeigen.

Tempo gefordert

Von der Stadt fordert Romano mehr Tempo. Diese hat sich für ihre heurige "Mega-Radwegoffensive" vorgenommen, um 20 Millionen Euro 17 Kilometer Radinfrastruktur neu zu bauen oder zu verbessern – unter anderem in der Linken Wienzeile, der Lassalle- und der Krottenbachstraße. "Das, was gemacht wird, geschieht an den richtigen Orten", lobt Romano. Aber: In Summe sei es zu wenig.

Darauf machte unlängst auch der Verkehrsclub Österreich unter Berufung auf eine Studie der Österreichischen Energieagentur aufmerksam. Damit Radeln attraktiv sei, müssten österreichweit bis 2030 jährlich 696,7 Millionen Euro in den Ausbau und die Verbesserung der Infrastruktur gesteckt werden. Der Wiener Anteil: 80,7 Millionen Euro. (Stefanie Rachbauer, 11.7.2022)