Bei sexueller Belästigung oder Übergriffen werden Verfahren oft eingestellt, weil es keine Beweise gibt. Das liege aber auch daran, dass die Ermittlungsbehörden zu wenig danach suchen würden, kritisiert eine Anwältin.

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Egal ob bereits vor Gericht oder noch vor der Polizei – es sind die wohl am schwersten zu ermittelnden Fälle: Eine Person, meist eine Frau, behauptet, von einer anderen Person, meist einem Mann, gegen ihren Willen sexuell belästigt oder gar genötigt bzw. vergewaltigt worden zu sein. Wie schlimm diese Übergriffe für die Opfer sind, kann kaum nachempfunden werden. Viele schaffen es nicht zur Polizei – sei es aus Scham, sei es aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird oder eine Anzeige zu nichts führt. Denn das Problem an diesen Fällen ist, dass sie sich meistens zwischen Opfer und potenziellem Täter abspielen – ohne Zeugen. Aussage steht dann gegen Aussage.

Allerdings kritisieren internationale Kommissionen, aber auch Anwältinnen und Betroffene, dass oft nicht gut genug ermittelt werde und zusätzliche Beweise häufig erst gar nicht gesucht bzw. beachtet würden.

Traumatische Einvernahme

Genau das ist Muna passiert, die eigentlich einen anderen Namen hat. Nachdem ein Freund sie mehrmals belästigte, obwohl sie ihm jedes Mal sofort zu verstehen gab, dass er aufhören solle und sie das nicht wolle, ging sie zur Polizei. "Das war einer der traumatischsten Tage meines Lebens", sagt sie heute – und meint damit nicht nur die Übergriffe, sondern auch ihre Einvernahme. Der Polizeibeamte habe die Augen verdreht, sie verspottet.

Das wurde auch im Laufe der Ermittlungen wegen sexueller Nötigung nicht besser – sie wurden schlussendlich eingestellt. Die Begründung der Staatsanwaltschaft: Die Taten seien "nicht mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit nachweisbar, zumal es neben der Aussage des Opfers keinerlei objektivierte Beweisergebnisse gibt" und die Verantwortung des Beschuldigten nicht widerlegbar sei. Der Beschuldigte gab an, immer einvernehmlich gehandelt und Munas Wünsche stets respektiert zu haben.

Wie viele Verfahren eingestellt wurden

Mit dem eingestellten Verfahren steht die junge Frau alles andere als allein da, wie Auswertungen des Justizministeriums zeigen.

Der Großteil der Anzeigen wird, wie in der Grafik ersichtlich, schon im Verantwortungsbereich der Exekutive nicht weiter verfolgt. Jene Fälle, denen sich die Staatsanwaltschaft annimmt, enden aber ebenfalls recht häufig mit einer Einstellung.

Raten von etwa 60 Prozent seien bei Delikten, bei denen es um sexuelle Belästigung bzw. Gewalt geht, seit Jahren Normalität, sagt Anwältin Sonja Aziz, die viele Opfer sexueller Übergriffe vertritt. Das unabhängige Expertengremium Grevio kritisierte Österreich in der Vergangenheit für niedrige Verurteilungs- und hohe Einstellungsraten. Aber auch mehrere Erlässe hätten bis dato nichts daran geändert, sagt Aziz. Eines der Probleme ist laut der Anwältin unter anderem, dass die Beweise von Amts wegen kaum erhoben werden. "Die ganze Last liegt auf den Opfern."

Oft würde man sich in den Staatsanwaltschaften etwa mit den Berichten über die Aussagen des Opfers bzw. Täters zufrieden geben, sich selbst aber keinen persönlichen Eindruck mehr verschaffen. Die Fehlerquote sei hoch, weil es sich nicht um ein wörtliches Protokoll handle.

Auch Muna berichtet, dass ihre Aussage in der Zusammenfassung der Polizei falsch wiedergegeben worden sei. Zusätzliche Zeugen würden sowieso kaum gehört, weswegen Aziz proaktiv Beweisanträge stelle. Laut der Anwältin fließt auch nicht mit ein, dass der Beschuldigte lügen dürfe. "Diese unterschiedliche Ausgangslage wird nicht anerkannt, stattdessen werden Opfer oft vorschnell mit verschiedensten Motiven für eine etwaige Falschaussage konfrontiert."

Wenn Beweise nicht beachtet werden

Muna wollte mehr liefern als nur ihre Geschichte. Sie konnte es auch. Denn sie hat Chatverläufe – diese liegen dem STANDARD vor –, in denen der Beschuldigte davon schreibt, zu weit gegangen zu sein. Gegenüber einem Freund gab er dies zu und schrieb, dass daran aber eigentlich Muna schuld sei – eine klassische Täter-Opfer-Umkehr, wie sie viele Männer vornehmen: "Das Problem ist: Wenn man in so einer Situation ist, kann man sich nicht beherrschen." Und an Muna schrieb er: "Ich weiß, dass du das nicht willst. Und ich bereue es." An einer anderen Stelle: "Ich fühle mich nicht normal, weil ich mich jetzt selbst hasse."

Screenshots der Unterhaltungen wollte die junge Frau beim ersten Besuch bei der Polizei gleich vorlegen. "Aber der Polizeibeamte hat sich dafür nicht interessiert und gesagt, ich solle auf die Staatsanwaltschaft warten. Da kam aber nur die Einstellung."

Muna und ihre Anwältin bekämpften diese Einstellung, ein Richtersenat gab dem Antrag auf Fortführung statt. Wenige Wochen später dann allerdings wieder Ernüchterung: Denn laut Staatsanwaltschaft würden die Nachrichten nicht den Umfang für geschlechtliche Nötigung, sondern nur für sexuelle Belästigung erfüllen. Dieses Delikt sei aufgrund des geringeren Strafmaßes aber bereits verjährt – erneute Einstellung.

Was passieren muss

Was bleibt, ist eine nicht nur durch die Übergriffe, sondern auch durch die Erfahrung mit Polizei und Staatsanwaltschaft mitgenommene bzw. enttäuschte und getroffene Muna. "Die Behörden rechtfertigen sich mit 'keine Beweise', nehmen aber die Worte des Täters ernster, weil ich glaube, dass sie ein bestimmtes Bild haben, wie sexuelle Übergriffe aussehen sollen."

So habe sie der Polizeibeamte beispielsweise gefragt, ob sie denn nicht geschrien habe, als sie der Bekannte zu Boden drückte, obwohl sie es nicht wollte. "Die Frage sollte doch sein, warum der Täter nicht aufgehört hat, als ich mehrmals 'Stopp' gesagt habe." Dass die vorgelegten Nachrichten "nur" für sexuelle Belästigung sprechen würden, kann Muna auch nicht verstehen.

Täter-Opfer-Umkehr

Was muss passieren? Die Staatsanwaltschaften klagen über Personal- und Geldmangel. Das will Anwältin Aziz auch nicht leugnen. "Aber was ich glaube, ist, dass es zu wenige Schulungen gibt. Da fehlt Wissen. Das kommt im Jus-Studium gar nicht vor." Seminare seien zu sehr auf das Juristische fokussiert, an der psychologischen Ausbildung, die in solchen Fällen eben notwendig sei, hapere es. "Meine Mandantinnen werden beispielsweise noch immer gefragt, warum sie denn nicht nach dem ersten Vorfall mit dem Ehemann Anzeige erstattet haben, dabei weiß man aus der Forschung seit Jahren, wie schwierig es ist, aus einer Gewaltspirale auszubrechen."

Ein prominentes Beispiel dafür, dass oft nach der Verantwortung der Opfer gefragt wird, war der Prozess wegen sexueller Belästigung der Journalistin Raphaela Scharf durch ihren ehemaligen Chef Wolfgang Fellner. Die Richterin fragte die Frau, warum sie denn nicht gekündigt habe, man wisse doch, wie es im Unternehmen zugehe. Den Wunsch Scharfs, nicht mehr mit Fellner moderieren zu müssen, kommentierte die Richterin mit den Worten: "Ich glaube, Sie träumen von warmen Eislutschern."

Hohe Dunkelziffer

Das oft mitschwingende Victim-Blaming in Befragungen müsse aufhören, sagt Aziz. "Wie belastend es ist, wenn nach einem Motiv für eine Anzeige gefragt wird, beispielsweise ob es ein offenes Scheidungsverfahren gibt, daran denkt niemand. Anstatt die Tat in den Vordergrund zu rücken, steht plötzlich das Verhalten des Opfers im Fokus." Die Dunkelziffer bei nicht angezeigten sexuellen Übergriffen bzw. häuslicher Gewalt sei jedenfalls hoch, meint Aziz. Und mit hohen Einstellungsraten und traumatischen Erfahrungen bei Einvernahmen werde das auch nicht besser, sagt sie.

Im Justizministerium beruft man sich auf den Erlass bezüglich der Strafverfolgung bei Delikten im sozialen Nahraum, den es erstmals 2019 gegeben habe und der mit dem Gewaltschutzpaket Ende letzten Jahres zum zweiten Mal überarbeitet worden sei. Hauptaugenmerk sei die "weitere Verbesserung der Kommunikation" zwischen Staatsanwalt und Kriminalpolizei. Hervorgehoben werde die "besondere Bedeutung der Sicherung objektiver Beweismittel". Außerdem unterliege die Anwendung in der staatsanwaltschaftlichen Praxis einer laufenden Evaluierung und sei Gegenstand regelmäßiger Vernetzungstreffen der Vertreter der betroffenen Institutionen.

Was sich Muna wünscht

Muna zieht ein bedrückendes Fazit. Sie verstehe nun viel besser, wieso viele Frauen erst gar keine Anzeige erstatten. Sie wünscht sich psychologisch geschulte Exekutivbeamte, Staatsanwältinnen und Richter. "In der grausamen Welt, in der wir leben, sind alle automatisch auf der Seite der Täter." Auch dass Taten verjähren, hält sie bei sexuellen Übergriffen für falsch, denn oft dauere es eben sehr lange, bis Frauen die Kraft und den Mut aufbringen, die Vorfälle anzuzeigen.

Muna habe für sich beschlossen, dass sie selber Stärke zeigen müsse. So habe sie letztens den Bekannten, der sie nach ihrer Anzeige nicht in Ruhe gelassen habe, angeschrien und ihn weggeschubst, als er sie wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht anstarrte. "Man ist gezwungen, selber Gerechtigkeit zu erreichen. So sollte man eigentlich nicht denken, aber wenn man so eine Enttäuschung bei den Behörden mitmacht, gelangt man an diesen Punkt." (Lara Hagen, 7.9.2022)