
Sind das nur die Spitzen des Eisbergs? Wuchern darunter tatsächlich noch höhere Säulen, buntere Überlappungen und organischere Schichtungen? Mit diesem Gedanken spielt es sich leicht im unmittelbaren Umfeld der Skulpturen von Tony Cragg, die wie lebendige Gewächse aus der Erde, nein, dem Museumsboden zu sprießen scheinen. Es ist die erste Einzelschau, die die Albertina dem 73-jährigen Bildhauer widmet, der 1949 in Liverpool geboren wurde und heute in Wuppertal und Berlin lebt. Mit 21 Skulpturen und 21 Zeichnungen lässt man die letzten zwei Jahrzehnte von Craggs Schaffen Revue passieren und die Pfeilerhalle füllen.
Ausgangspunkt ist die älteste hier gezeigte Bronzearbeit Deep Early Form (Unergründliche Urform) von 2003, die ursprünglich aus der Sammlung Essl über die Familiensammlung Haselsteiner in die Albertina kam und seit 20 Jahren nicht mehr ausgestellt wurde. Woher die restlichen bildhauerischen Objekte des Turner-Preis-Gewinners stammen, ist durch die Informationsaufkleber in der Ausstellung nicht erkenntlich, auch der begleitende Katalog verrät keine Details. Erst auf Anfrage erfährt man, dass es sich bis auf eine private Leihgabe um Werke aus dem Studio des Künstlers selbst handelt, die "ihm am Herzen" lägen und erst in den letzten Jahren entstanden seien.

Gesichter im Dickicht
Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder spricht lieber über die Wandlungsfähigkeit von Craggs Werk sowie dessen Beitrag zur abstrakten Skulptur des 20. Jahrhunderts. Vor allem lobt er das Bestreben des Documenta- und Venedig-Biennale-Künstlers, mit seinen teils tonnenschweren Objekten gegen die Verarmung der Form anzukämpfen. Cragg selbst erklärt, dass er mit den abstrakten Skulpturen seit den 1970ern der "billigen Geometrie der Industrie" entgegenwirken wollte.
Eine lineare Formensprache ist tatsächlich schwer erkennbar in Craggs Figuren, die aus diversen Materialien (Holz, Glas, Bronze) als individuelle Protagonisten den Raum erobern. Zackige Charaktere mit glatter Oberfläche, hölzerne Körper mit Rundungen oder hochgewachsene fast fluide Gäste haben sich zum Tanz eingefunden. Will das Publikum die Werke in ihrer Abstraktion erfahren, muss es diese umrunden. Auch Schröder sagt, es handle sich um eine Ausstellung für Peripatetiker. Let’s walk!

Denn erst in der Bewegung ergeben sich – wie Skizzen erahnen lassen – in manch dieser Formen versteckte Gesichter: Wie aus dem Nichts tauchen Kinnpartien, Nasen oder Lippen auf – um im nächsten Moment wieder im Dickicht zu verschwinden. Es sind bunte Felsen, Büsche oder Tropfsteine, an die man erinnert wird. Der Künstler erklärt die Assoziationen mit seiner Leidenschaft für die Natur, insbesondere die Geologie. Schon als Kind habe ihn interessiert, was sich unter der Erde befände, so Cragg. Landschaften seien für ihn in gewisser Weise erotisch. (Katharina Rustler, 13.7.2022)