"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Eherne Prinzipien

"Für ein Land wie Deutschland ist die Ohnmacht schlicht inakzeptabel, mit der sein Wirtschaftsminister und der für das Energienetz zuständige Behördenleiter grundlegende Fragen nach der Zukunft beantworten müssen. 'Wir wissen es nicht', sagten Robert Habeck und Bundesnetzagentur-Direktor (Klaus) Müller am Montag auf die Frage, ob im Herbst genug russisches Gas nach Deutschland strömt. Ob die Gasspeicher, woher auch immer, bis dahin gefüllt sind, um das Land ohne große Verwerfungen über den Winter zu bringen – sie wissen wohl auch das nicht. In kurzer Zeit stürzte damit ein deutsches Kartenhaus ein. Drei per Gesetz geschützte eherne Prinzipien gerieten außer Acht: Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit."

In Mallnow an der polnisch-deutschen Grenze kommt über die sogenannte Jamal-Leitung laut Bundesnetzagentur bereits seit einiger Zeit kein russisches Gas mehr an.
Foto: EPA / Filip Singer

"The Times" (London): Gute Nachrichten für AfD

"Bisher hat die Regierung von Olaf Scholz versucht, die Bevölkerung durch Überzeugungsarbeit zu einem geringeren Energieverbrauch zu bewegen, anstatt mit Rationierungen zu drohen. Diese würden theoretisch vor allem die Unternehmen treffen. Jedoch könnte eine typische vierköpfige Familie mit einem Anstieg ihrer jährlichen Energierechnung um mehr als 2.000 Euro konfrontiert werden, wenn die Versorger ihre Kosten weitergeben dürfen.

Verbrauchergruppen haben davor gewarnt, dass ein Viertel der Bevölkerung in die Energiearmut abrutschen könnte, weil sie es sich nicht mehr leisten können, ihre Häuser zu heizen oder mit Strom zu versorgen. Politiker haben bereits die Möglichkeit erörtert, beheizte Stadthallen zur Verfügung zu stellen, damit sich notleidende Einwohner im Winter warm halten können. All das sind gute Nachrichten für die rechtspopulistische AfD, die versucht, ihre schwächelnden Wahlchancen zu verbessern, indem sie die Krise für sich nutzt."

"De Standaard" (Brüssel): Miserable Ausgangslage

"Es dämmert Deutschland, dass die Gaszufuhr aus Russland sehr schnell zu einem Problem werden kann. Die Einstimmung der Bevölkerung auf drastische Maßnahmen zur Bewältigung eines eisigen Winters ist – ungeachtet der bevorstehenden Hitzewelle im Sommer – bereits in vollem Gange. Dabei gibt es keine Tabus. (...)

Deutschland muss mit sich selbst ins Reine kommen, nachdem jahrzehntelang gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland fast ein politisches Dogma waren. Seit dem Angriff auf die Ukraine hat sich diese fundamentale politische Richtungsentscheidung als grenzenlos naiv erwiesen und zur größten Herausforderung für das Land seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Selbst die deutsche Wiedervereinigung, die sicherlich nicht reibungslos verlaufen ist und die starke Wirtschaft der Bundesrepublik jahrelang belastet hat, wird hiervon vielleicht in den Schatten gestellt. Heute ist die Ausgangslage für Deutschland erneut miserabel. Aber der Wille, der Realität ins Auge zu sehen, wächst."

"Rzeczpospolita" (Warschau): Augen verschlossen

"Das Gas sollte Deutschland Frieden und Wohlstand bringen. Im Namen dieser Ruhe hat Berlin de facto die Augen verschlossen vor der Verschlechterung der politischen Verhältnisse in Russland, den Kriegsabenteuern des Kremls in Tschetschenien, Georgien, im Donbass und auf der Krim. Als (Kreml-Chef Wladimir) Putin im Februar in der Ukraine zuschlug, ging es für die Deutschen nicht nur um Moral. Sondern auch darum, ob man die Errungenschaft der Nachkriegsgenerationen zunichtemacht, die politische und soziale Stabilität gefährdet und in den wirtschaftlichen Abgrund schlittert. Am Ende sprang Scholz ins kalte Wasser. Inwieweit dies Putin verärgert hat, wird sich zeigen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass mit der Bestrafung Deutschlands ganz Europa bestraft wird. Insbesondere Berlins engster Wirtschaftspartner – nämlich Polen. Und es bleibt abzuwarten, ob steigende Rohstoffpreise, Exporteure, die plötzlich in einer Welt ohne Partner am Rhein aufwachen, oder Isolationisten und Protektionisten, die in Berlin an die Macht kommen könnten, der Preis sind, den wir dafür zahlen, dass 'Deutschland sich endlich anständig benommen hat'."

"Dagens Nyheter" (Stockholm): Harter Winter

"In Deutschland bereitet man sich auf einen harten Winter vor. Nicht weil es draußen ungewöhnlich kalt werden wird, sondern weil es notwendig werden kann, die Thermostate ordentlich herunterzudrehen. Fast die Hälfte der Haushalte im Land wird mit Erdgas beheizt, und in Städten wie Hamburg warnen Politiker davor, dass warmes Wasser vielleicht nur zu bestimmten Tageszeiten zur Verfügung stehen wird.

Den deutschen Gasknall wird man auch in Schweden spüren. Nach den Abschaltungen von Atomreaktoren in Oskarshamn und Ringhals in den vergangenen Jahren werden die Strompreise in Südschweden immer mehr von den Preisen unter anderem in Deutschland beeinflusst. Und weil der Strompreis vom teuersten Energieträger – Erdgas – bestimmt wird, dürfte es eine Wiederholung des Preisschocks vom vergangenen Winter geben – nur schlimmer."

"La Repubblica" (Rom): Wie gelähmt

"Zu oft findet man für die europäische Behäbigkeit eine Art der Rechtfertigung: Die Union ist so, eins nach dem anderen. Aber dabei handelt es sich um Worte, die das europäische Projekt in Wirklichkeit erniedrigen statt es zu verteidigen. Und genau das passiert gerade beim Energienotstand oder besser gesagt beim Gasnotstand. Die EU erscheint wie gelähmt, versunken in einen vor allem von Mitgliedsstaaten überschwemmten Sumpf. Sicherlich von Deutschland und vielen der sogenannten Frugalen.

So kehrt man im Angesicht einer außergewöhnlichen Phase zu den üblichen Instrumenten und Antworten zurück. Besonnenheit wird zu Untätigkeit, Geduld wird zur Unvernunft. Ergebnis: Die europäische Größe wird reduziert und ihr Potenzial ignoriert. Doch Europa sollte jetzt – wie bei Corona nach einer anfänglichen Pattsituation – eine außergewöhnliche Reaktion zeigen. Eine, die über nationale Kurzatmigkeit hinausgeht. Aber das passiert nicht – zumindest im Moment."

"El Periódico" (Madrid): Koordinierte Politik

"Angesichts der Befürchtung, Putin könne Nord Stream als Kriegswaffe einsetzen, muss die EU eine gemeinsame Politik verfolgen, die besser koordiniert sein muss als je zuvor. Heute muss man sich mehr denn je darüber im Klaren sein, dass es keine nationalen Antworten gibt, egal wie sehr sich Machthaber wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán dafür aussprechen. (...)

Wir alle wissen, dass es kurzfristig keine idealen Lösungen gibt, nachdem die jahrzehntelange Abhängigkeit von russischem Gas einige EU-Länder in eine äußerst prekäre Lage gebracht hat. Mittel- und langfristig liegt die Lösung in der Diversifizierung und in der Beschleunigung der Energiewende. Kurzfristig ist der Handlungsspielraum kleiner, aber er ist vorhanden. Es sind allerdings Entschlossenheit, Fantasie und auch Solidarität nötig."

"Lidove noviny" (Prag): Riskante Solidarität

"Kiew drängt die EU-Staaten mit großer Entschlossenheit dazu, sich ganz von russischer Energie zu lösen. Ja, aus Sicht der Ukraine wäre das eine starke Geste der Unterstützung. Doch aus Sicht der Europäer ist es ein riskanter Schritt hin zu einem Winter ohne Heizung. Ist Solidarität einen solchen Preis wert? Das ist die Kehrseite der Medaille, wenn man die Ukrainer in ihrem Kampf ermutigt." (APA, 12.7.2022)