Die Vienna ist ein familiärer Verein. Missbrauchsvorwürfe erschüttern die Idylle auf der Hohen Warte

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Barbara Kolb von 100% Sport: "Der Schutz der Betroffenen steht an erster Stelle, alles andere muss zunächst zurückstehen."

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Der 12. Mai brachte auf der Hohen Warte eine überraschende Nachricht. Nach einem 1:2 des Frauenteams in Altach gab der First Vienna FC die Trennung von Cheftrainer M. bekannt. Offiziell hatte eine Serie von drei Niederlagen den Ausschlag gegeben. Außenstehende runzelten ungläubig die Stirn. Unter dem seit 2018 amtierenden Coach war der Aufstieg in die Bundesliga gelungen, warum also sollten knappe Niederlagen gegen Meister St. Pölten und die Austria einen verdienten Trainer den Job kosten? "Die Niederlagen halte ich für eine Ausrede", schrieb ein Fan der Blau-Gelben am selben Tag im Forum von austriansoccerboard.at. Und er sollte recht behalten.

Zwei Monate später weiß man, was in Döbling tatsächlich vorgefallen ist. Anfang Mai erfuhr die Vereinsleitung von länger zurückliegenden Missbrauchsvorwürfen gegen den Coach. Daraufhin wurde der 39-jährige M., der früher auch Nachwuchsteams der Vienna trainierte, seines Amtes enthoben. "Wir haben umgehend ein Team zusammengestellt, das die Vorwürfe prüft. Wir nehmen die Angelegenheit sehr ernst. Das Ziel ist die lückenlose Aufklärung. Wir lehnen jegliche Gewalt strikt ab", heißt es seitens des Vereins. Alle aktiven Spielerinnen des Trainers, für den die Unschuldsvermutung gilt, seien umgehend, am 13. Mai, über die Vorwürfe informiert worden.

Darüber hinaus hat die Vienna die Vorfälle nicht publik gemacht. Auch die Eltern der Nachwuchsspielerinnen wurden nicht in Kenntnis gesetzt – und dies, obwohl die Gerüchte Anfang Juni bereits weite Kreise gezogen hatten. Den Stein brachte am 2. Juli schließlich die Kronen Zeitung ins Rollen. Dem Bericht zufolge ermittelt die Staatsanwaltschaft Wien gegen M. wegen des "Verdachts der geschlechtlichen Nötigung und des Verdachts des Missbrauches eines Autoritätsverhältnisses". Dass man aus den Medien von den Vorwürfen erfahren musste, missfällt Eltern im Gespräch mit dem STANDARD. Man sieht das Vertrauensverhältnis angekratzt. Die Vienna ist eine Nachwuchsschmiede, der Verein gleicht einer großen Familie. Und in einer intakten Familie spricht man für gewöhnlich miteinander.

Warum so bedeckt?

Warum also hielt sich die Vienna dermaßen bedeckt? Der Klub nennt zwei Gründe. Erstens seien "aktuelle Nachwuchsspielerinnen nach jetzigem Kenntnisstand nicht betroffen, daher wurden die Eltern nicht umgehend informiert." Zweitens habe sich der Verein den Betroffenen gegenüber "zu absoluter Vertraulichkeit und dem Schutz ihrer Identität verpflichtet". So ehrenwert die Motive gewesen sein mögen, so schnell kam der Verdacht auf, die Vienna könnte die Geschichte unter den Teppich kehren wollen. "Hat die Vienna Missbrauchsvorwürfe vertuscht?", titelte etwa der Kurier.

War es so? Sollte hier etwas vertuscht werden? Barbara Kolb ist Fachbereichsleiterin von Safe Sport beim Verein 100% Sport und war Mitglied der nationalen Arbeitsgruppe für Prävention sexualisierter Gewalt im Sport: "Ich weiß, wie es ist, wenn etwas unter den Teppich gekehrt wird. Das ist hier sicher nicht der Fall."

Alles richtig gemacht?

Nina Burger, sportliche Leiterin der Vienna-Frauensektion, sei Anfang Juni auf 100% Sport zugegangen, um Empfehlungen und Unterstützung in der Aufarbeitung einzuholen. "Ich hatte das Gefühl, dass bei der Vienna im Gegensatz zu anderen Vereinen oder Verbänden offen und offensiv mit dem Thema umgegangen wird", sagt Kolb. Und die intransparente Informationspolitik? "Der Schutz der Betroffenen steht an erster Stelle, alles andere muss zunächst zurückstehen."

Man muss also Prioritäten setzen. Zuerst der Schutz, dann die Transparenz. "In der heiklen Phase, in der es zu Anzeigen kommt, muss man ermutigen. Das kostet Betroffene viel Kraft, es kommt zu einer Retraumatisierung. Man muss Sicherheit bieten", sagt Kolb.

Also hat die Vienna in dieser Causa alles richtig gemacht? "Aus Sicht der Betroffenen schon. Ich verstehe Eltern, die davon lieber aus erster Hand erfahren hätten. Aber das Vorgehen war bestimmt nicht gegen sie, sondern für die Betroffenen gedacht. Manchmal wird man in der Planung vom Tempo überholt. Gerade bei einem bekannten Verein wie der Vienna lässt sich kaum verhindern, dass die Presse vorzeitig aufspringt. Das sieht nach einem Eigentor aus, kann in Zeitnot aber passieren."

"Fürchterliche" Schlagzeile

Blöd also, wenn das Ganze vorzeitig in den Medien landet. Noch blöder, wenn es wie in der Krone mit der Schlagzeile "Sex-Skandal erschüttert ältesten Klub des Landes" geschieht. "Das ist fürchterlich, diese Wortwahl wird der Sache nicht gerecht", sagt Kolb. "Dass die Geschehnisse in dieser Form öffentlich werden, ist für alle Beteiligten unangenehm. Das torpediert den Prozess einer guten Aufarbeitung. Es kann dazu kommen, dass Anzeigen zurückgezogen werden. Wir haben alles schon erlebt." Trotzdem haben die Medien – ausgewogene Berichterstattung vorausgesetzt – ihren Nutzen. "Leider hilft die Veröffentlichung unserer Arbeit, weil sie für Sensibilisierung sorgt."

Bei der Vienna fängt indes die Arbeit an: "Wir analysieren sämtliche Bereiche unseres Vereins mit Augenmerk auf Möglichkeiten zur Vorbeugung." Zunächst gelte es das Personal besser zu schulen, dann müsse sichergestellt werden, "dass jede Spielerin, jeder Spieler von klein auf lernt, laut und deutlich Nein zu sagen, wenn Grenzen überschritten werden, und dies auch umgehend zu melden".

Kolb sieht den Verein jetzt in der Pflicht, "das Vertrauen wiederherzustellen. Ein Schutz- und Präventionskonzept braucht Zeit. Was die Vienna vorhat, hat Hand und Fuß. Die Botschaft muss klar sein: Das ist uns widerfahren, und so soll es nicht mehr sein." (Philip Bauer, 13.7.2022)