Boris Johnson wurde letztlich Opfer seines übertrieben positiven Denkens, sagt der Psychiater und Autor Raj Persaud im Gastkommentar.

Die britischen Konservativen suchen für Premier Boris Johnson im Eiltempo einen Nachfolger. Die oppositionelle Labour Party will ihn per Misstrauensantrag aus dem Amt jagen.
Foto: Reuters / Yves Herman

"Verzweifelter, wahnhafter Premier klammert sich an die Macht", hieß es am Donnerstag auf der Titelseite der Tageszeitung The Guardian. Doch lässt sich das bizarre Verhalten des britischen Premierministers Boris Johnson wirklich auf psychische Probleme zurückführen? Derart oberflächliche Behauptungen sind heutzutage nur allzu häufig. Wenn überhaupt, geht es darum, welche konkrete emotionale Krankheit er zeigt, und nicht darum, ob es eine andere psychologische Erklärung für seine surrealen Mätzchen gibt.

"Herdeninstinkt" der Fraktion

Nach einer beispiellosen Rücktrittswelle unter Ministern musste man Johnson die Schlüssel zu 10 Downing Street beinahe aus der Hand reißen. Noch in seiner Rücktrittsrede gab er einem "Herdeninstinkt" bei den Tories die Schuld für seinen Sturz und nannte es "exzentrisch", zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Regierungschef auszutauschen.

Aber ist er "wahnhaft"? Die Opfer von Wahnvorstellungen klammern sich trotz überwältigender Belege an Vorstellungen, die offenkundig falsch sind. Doch selbst wenn jemand diese Kriterien erfüllt, müssen wir uns zusätzlich fragen, was den Betreffenden dazu bringt, sich vernünftigen Argumenten derart zu widersetzen, und worauf seine schweren Fehleinschätzungen zurückzuführen sind.

Realitätsfernes Wahlverhalten

Die Führungspsychologie legt nahe, dass dieselben Elemente, die manche Politiker populär machen, letztlich auch ihren Niedergang herbeiführen. Das Psychodrama eines gewählten Spitzenpolitikers spiegelt daher häufig das Unterbewusstsein eines politischen Gemeinwesens wider: Wir kriegen manchmal wahnhafte Politiker, weil wir bei unserem Wahlverhalten selbst eine gewisse Realitätsferne an den Tag legen.

David Collinson, Professor für Führung und Organisation an der Universität Lancaster, führt dieses Dilemma auf übertrieben positives Denken zurück; er selbst spricht – unter Verweis auf das bekannte Antidepressivum, das verspricht, die Menschen aufzumuntern, ohne die Probleme in ihrem Leben tatsächlich zu beheben – von "Prozac-Führung". Diese "ermutigt Führer, an ihre eigenen Narrative zu glauben, wonach alles gut läuft, und schreckt ihre Anhänger davon ab, Probleme anzusprechen oder Fehler einzugestehen".

"Selbst wenn alles um sie herum zusammenbricht, konzentrieren sie sich auf das Positive."

In der Politik kommen Prozac-Führer häufig an die Macht, indem sie den Wählerinnen und Wählern eine völlig überoptimistische Sicht der Zukunft verkaufen. Wenn die Bevölkerung sich das Narrativ eines Prozac-Führers zu eigen macht, ist sie es, die bereits am Rande des Wahns steht. Ein Land, das sich einen solchen Regierungschef zulegt, leidet womöglich, ist unglücklich und bedarf verzweifelt einer künstlichen Aufmunterung. Auf Johnson – einen Mann, der für seine Bonhomie und erbarmungslos gute Laune bekannt ist – scheint Collinsons Beschreibung eindeutig zuzutreffen. Man erinnere sich, dass Johnson, bevor seine politische Karriere an Schwung gewann, häufig in Comedy-Programmen im Fernsehen zu Gast war.

Nun freilich lacht keiner mehr. Prozac-Führer fallen unweigerlich irgendwann ihrer eigenen Positivität zum Opfer; sie weigern sich, Belege in Betracht zu ziehen, die ihren eigenen rosigen Einschätzungen widersprechen. Selbst wenn alles um sie herum zusammenbricht, konzentrieren sie sich auf das Positive und überzeugen sich selbst, dass es noch immer einen Ausweg aus dem Abgrund gibt.

Nostalgische Traumwelt

Manche würden auch Donald Trump als Prozac-Führer charakterisieren. Nachdem er die US-Präsidentschaftswahl 2020 eindeutig verloren hatte, überzeugte er seine Anhängerinnen und Anhänger, dass sie in Wahrheit gewonnen hätten und noch obsiegen würden. Doch dass Trump an sein eigenes Narrativ glaubte, scheint zunehmend zweifelhaft. Der Untersuchungsausschuss des US-Kongresses zum 6. Jänner hat eine Vielzahl von Beweisen aufgedeckt, die zeigen, dass Trump sich seiner Niederlage völlig bewusst war.

Ein weiteres potenzielles Beispiel ist Wladimir Putin, der für seine Anhängerschaft und die breitere russische Öffentlichkeit eine Art nostalgischer Traumwelt heraufbeschworen hat. Putin glaubt angesichts der Berichte, dass er von seinen eigenen Generälen unzutreffende Informationen erhalten hat, womöglich wirklich, dass seine Chance auf Eroberung der Ukraine besser sei, als sie es ist.

Harte Kritik

Collinson betrachtet performative Positivität als ein Merkmal zeitgenössischer Kultur. Unter Führungskräften in Wirtschaft und Politik ist eine optimistische Eigenwerbung inzwischen große Mode. Johnson erschien es womöglich offensichtlich, dass man Stärke, Macht und Selbstvertrauen vermitteln muss.

Im Gegensatz hierzu kritisierte der ehemalige Schatzkanzler Rishi Sunak Johnson in seinem Rücktrittsschreiben hart dafür, dass er der Öffentlichkeit negative Wahrheiten vorenthalten habe. "Unser Land steht vor immensen Herausforderungen", sagte Sunak. "Wir beide wollen eine wachstumsstarke Volkswirtschaft mit niedrigen Steuern und öffentliche Dienstleistungen von Weltrang, aber das ist nur dann in verantwortlicher Weise erreichbar, wenn wir bereit sind, hart zu arbeiten, Opfer zu bringen und schwierige Entscheidungen zu treffen."

Bessere Zukunft

Die meisten Menschen wissen, dass, wenn etwas zu gut scheint, um wahr zu sein, es vermutlich nicht wahr ist. Es ist eine Sache, der Öffentlichkeit zu erzählen, dass eine bessere Zukunft möglich ist; etwas ganz anderes ist es, zu behaupten, dass der Weg dorthin einfach sei. Das Markenzeichen von Prozac-Führern ist, dass sie nie zulassen werden, dass ihre Wahrheit mit der Realität kollidiert; lieber weichen sie ihr bis zuletzt aus. Noch in seiner Rücktrittsrede klammerte sich Johnson an die Vorstellung, dass, "selbst wenn die Dinge derzeit manchmal düster erscheinen mögen, unsere gemeinsame Zukunft golden ist".

Es ist nun an der britischen Öffentlichkeit, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden. Positivität um ihrer selbst willen kann ein Land nur so weit bringen. (Raj Persaud, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 13.7.2022)