Ein Hauch von Freiheit in der Zuschaustellung von Amoral und Macht: Der allseits hofierte US-Gesetzlose Al Capone, bereit zum Schwimmengehen in Florida (fotografiert um 1930).

Foto: imago images/Everett Collection

An Warnungen vor den Anwendungsschäden von Moralinsäure hat es selten gefehlt. Als der Soziologe Arnold Gehlen 1969 die überaus bedenklichen Folgen von "Hypermoral" anprangerte, wusste er die Mehrheit der Kriegsgeneration auf seiner Seite: Zu viele Deutsche hatten der Nazi-Diktatur aus freien Stücken zugearbeitet. Gehlens Einwände gegen die Forderungen des Tugendterrorismus schienen grundvernünftig. Nur durch Institutionen wie Familie und Justiz sei das "Mängelwesen" Mensch überhaupt imstande, gegenüber der Umwelt zu bestehen.

Inbegriff der Institution? Ist der Staat. "Überdehnt" die Moral nun ihre Geltungsansprüche, gelangt es infolge Überlastung zu einer gefährlichen Vergrößerung des menschlichen Moralorgans. Anständige Staatsbürgerinnen liefern daher, schon aus Gründen der internen Gesundheit, ihr Gewissen dem Staat zur sorgfältigen Aufbewahrung aus.

Moralkritik, so führt Autor Jörg-Uwe Albig in seinem brillanten Essay Moralophobia süffisant aus, entpuppt sich als die allgemeinste Form besonderer Privilegierung. Die meisten derer, die sich von der Moralkeule traktiert sehen, protestieren um egoistischer Vorteile willen. Die "kleine" Übertretung, die Inkorrektheit, die kein Aufhebens wert ist: "Lappalien" sollen es sein, die helfen, die Illusion der Freiheit im Großen aufrechtzuerhalten. Moralkritik unterhält daher ein zutiefst zwiespältiges Verhältnis zur Macht.

Angst vor Maulkörben

Aus jeder Zurechtweisung konstruiert sie die Instanz des strafenden Vaters. Jede Bitte um Mäßigung erscheint ihr bereits als Anbringen eines Maulkorbs. Wie Albig überzeugend darlegt, wittern Ankläger der "Verbotskultur" hinter jedem Vorschlag zur Güte die "hochgezogene Augenbraue des Vaters". Die unbelehrbaren Erzähler von Altherrenwitzen müssen Stubenarrest befürchten! Leicht gerät bei allen Ängsten vor den Geltungsansprüchen der Korrektheit die Ventilfunktion der Amoral aus dem Blick.

Moralfeinde und andere Wüstlinge bangten seit jeher um den Verlust ihrer Privilegien. Ein notorischer Landfriedensbrecher wie Götz von Berlichingen frönte umso ungenierter der ritterlichen Wegelagerei, als er durch Raub und Geiselnahme dicke Batzen Geldes lukrierte. Ein Marquis de Sade pfiff aus guten Gründen auf die Moral. In seinen Schriften konnte er das unumschränkte Recht der Adeligen auf körperlichen Zugriff als "perverse" Lustbarkeit nachstellen.

Vollends Friedrich Nietzsche schöpfte aus der (teils eingebildeten) Tatsache der eigenen Hinfälligkeit eine Apotheose von Stärke und Amoral. Wie es überhaupt scheint, dass die Moralkritik ein bestrickendes Angebot macht. Sie führt Zu-kurz-Gekommene, Abgehängte und andere Moderne-Opfer zurück in die Trotzphase. Sie gaukelt einen Selbstwert vor, der sich am Recht zur Übertretung aufrichtet.

Moralphobie weist somit Parallelen auf zu frühkindlicher Rebellion. Als das vergnügungssüchtige, heimlich Schnaps konsumierende Amerika der Jahre nach 1920 dem Gangster Al Capone zu Füßen lag, da bewunderte man an dem Einwandererkind dessen Unbedenklichkeit: ein Mörder, Hehler und Geldwäscher in feinster Seidenunterwäsche. Ebenso schick war zur nämlichen Zeit Bertolt Brechts Apotheose auf die Haifischzähne der Amoral. Der Bettel-Unternehmer Peachum weiß in der Dreigroschenoper entsprechenden Rat: "Wer möchte nicht in Fried’n und Eintracht leben? / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!"

Verschämte Angebote

Noch die gefährlichen Rüpeleien des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump stellen verschämte Freiheitsangebote dar. Unter der Wirkung seiner Lügen und Unverfrorenheiten scheint sich der kaputte Boden der Industriegebiete ("Rust Belt") in die alte Prärie zurückzuverwandeln, in das verheißene Land ewiger Freiheit und Gesetzlosigkeit.

Die misogyne Prahlerei ("Grab them by the pussy!") dient zur Aufrüstung der Abgewrackten: dem "empowerment" der "powerless people". Trump, so Albig, personifiziert die Rache der Moderne-Verlierer an den Vorschreibungen der Moral. Er ist der Gangsta-Rapper der Republikanischen Partei. Dieser trotzige Mensch versinkt im autosuggestiven Selbstgespräch, das keine Sekunde aufhören darf: damit sich nicht der moralische "Rest" ungefragt wieder zu Wort meldet.

Sein Trotz, und der seiner Anhänger, richtet sich gegen die Anforderungen der Zivilisation. Populismus wehrt Zumutungen ab. Moralität, die "freie Grundhaltung des Gutseinwollens", gilt seinen Vertretern als Teufelszeug von "Woko Haram". (Ronald Pohl, 14.7.2022)