EU-Vizekommissionspräsidentin Věra Jourová präsentierte am Mittwoch den Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit in den 27 Mitgliedsländern.

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Luxemburg – Bei Demokratie und Grundrechten gibt es in Polen und Ungarn nach Ansicht der EU-Kommission weiterhin gravierende Defizite. In Polen prangert die Kommission in ihrem am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit in den 27 Mitgliedsländern vor allem erneut einen Mangel an Unabhängigkeit der Justiz an. In Ungarn rügt die Brüsseler Behörde unzureichende Strafverfolgung "hochrangiger Korruptionsfälle". Wegen ausbleibender Fortschritte steht aber auch die EU-Kommission selbst in der Kritik.

Die für Werte zuständige EU-Vizekommissionspräsidentin Věra Jourová betonte, der dritte Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit stehe in einem "außerordentlichen geopolitischen Kontext". Während der russische Präsident Wladimir Putin in der Ukraine auch gegen Demokratie und Menschenrechte zu Felde ziehe, könne die EU "nur dann glaubwürdig sein, wenn in unserem eigenen Haus Ordnung herrscht".

Politische Einflussnahme in Polen

In Polen bemängelt die EU-Kommission seit Jahren die Einflussnahme der nationalkonservativen Regierungspartei PiS auf die Justiz. Zugeständnisse machte Warschau erst, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) im November eine tägliche Millionenstrafe verhängt hatte, die sich nach Brüsseler Angaben inzwischen auf 300 Millionen Euro summiert.

Am Freitag tritt in Polen ein Gesetz zur Abschaffung der umstrittenen Disziplinarkammer in Kraft, die missliebige Richter entlassen oder betrafen kann. Dies reicht der EU-Kommission zufolge jedoch nicht aus, um die Gewaltenteilung zu garantieren.

Ungarn als "Fassadendemokratie"

Ungarn wird zudem des Missbrauchs von EU-Geldern verdächtigt. Die EU-Kommission hatte deshalb im Februar kurz nach der Wiederwahl von Regierungschef Viktor Orbán ein Sanktionsverfahren eingeleitet, das zur Kürzung von EU-Subventionen führen kann.

Wegen der mangelnden Fortschritte steht die Kommission als Hüterin der europäischen Verträge aber auch selbst in der Kritik: "Bei der PiS-Regierung in Polen und Viktor Orbán in Ungarn lässt die EU-Kommission eine deutliche Sprache vermissen", kritisierte die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katharina Barley (SPD). EU-Justizkommissar Didier Reynders wies den Vorwurf zurück: Seine Behörde werde "weiter alle zur Verfügung stehenden Instrumente" gegen die beiden Länder nutzen, betonte er. Vizekommissionspräsidentin Jourová sagte, vor allem bei der Vergabe der milliardenschweren EU-Haushaltsmittel sei die Behörde "wachsam".

Corona-Wiederaufbaufonds als Druckmittel

Als härtestes Druckmittel nutzt die EU den Corona-Wiederaufbaufonds. Solange Polen die Kommissionsforderungen nicht erfüllt, muss das Land auf Mittel im Umfang von 35,4 Milliarden Euro verzichten. Ungarn hat bisher keine Aussicht auf die erhofften 7,2 Milliarden Euro.

Österreich empfahl die EU-Kommission, die Errichtung einer unabhängigen Bundesstaatsanwaltschaft nach "europäischen Standards" fortzusetzen. Außerdem solle die Justiz in die Bestellung von hochrangigen Gerichtspräsidenten einbezogen werden, heißt es in dem am Mittwoch vorgelegten Bericht der EU-Kommission zur Rechtsstaatlichkeit. Der Report äußert wie im Vorjahr wieder Sorgen über hohe staatliche Werbeausgaben und den damit verbundenen politischen Einfluss. Kritik äußert die EU-Kommission auch zu den Arbeitsbedingungen für Medien. "Während die Standards der journalistischen Profession gut sind, waren Journalisten Drohungen und Schikanen ausgesetzt, insbesondere während Protesten", heißt es in dem Bericht.

Empfehlungen für Österreich

Zu den weiteren Empfehlungen gehört der Abschluss der rechtlichen Überarbeitung der Regeln für die Parteienfinanzierung. Weiters sollte Österreich wirksame Regeln zur Erklärung finanzieller Interessen für Abgeordnete des Parlaments einführen, verbunden mit einem effizienten Monitoring und Sanktionsmechanismen. Grundsätzlich bescheinigte die EU-Kommission Österreich, dass sich die Effizienz des heimischen Justizsystems weiter verbessert habe, vor allem für Verwaltungsfälle, "und das Niveau der wahrgenommenen Justiz-Unabhängigkeit ist weiterhin sehr hoch". Eine Reihe wichtiger Reformbemühungen sei im Gange.

Von Deutschland verlangte die EU-Kommission, stärker gegen die Einflussnahme von Lobbyisten auf die Politik vorzugehen. Die deutsche Bundesregierung müsse etwa die Vorschriften gegen den sogenannten Drehtüreffekt verschärfen, heißt es in dem Bericht. Damit ist der Wechsel früherer Politiker oder Staatsbediensteter in die Wirtschaft gemeint.

"Medienfreiheitsgesetz" geplant

"Wir müssen mehr tun, um Journalisten vor Druck und Drohungen zu schützen", betonte Vizekommissionspräsidentin Jourová zudem. Das zeigten die Enthüllungen über die Pegasus-Software, mit der Journalisten, Aktivisten oder Politiker ausgespäht worden seien – und das nicht nur in Ungarn und Polen, sondern auch in Ländern wie Spanien oder Frankreich. Am 13. September will die Kommission deshalb ein "Medienfreiheitsgesetz" vorschlagen.

"Ungarn ist zu einer Fassadendemokratie verkommen, in der die Prinzipien des Rechtsstaats schon lange ignoriert werden und freie und faire Wahlen nicht mehr möglich sind. Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Medienfreiheit sowie eine unabhängige Justiz sind schlichtweg nicht mehr vorhanden", kritisierte die SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath.

Die grüne Delegationsleiterin Monika Vana forderte mehr Durchsetzungsmöglichkeiten der EU. "Die Regierungen in Polen und Ungarn höhlen den Rechtsstaat systematisch aus, und es ist daher nicht zu erwarten, dass sie nun auf reine Empfehlungen reagieren werden. Dafür braucht es die weitere Aktivierung des neuen Rechtsstaatsmechanismus durch die Kommission und eine konsequente Anwendung aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel!" (APA, 13.7.2022)