Zwei Bilder des Galaxienhaufens SMACS 0723 – links aufgenommen von Hubble, rechts vom James-Webb-Teleskop.
Foto: APA/AFP/NASA/HANDOUT

Seit Joe Biden in der Nacht von Montag auf Dienstag das erste Bild des neuen James-Webb-Teleskops präsentierte, sind Gravitationslinsen vielen Menschen ein Begriff. Auf dem Bild waren neben und hinter dem Galaxienhaufen SMACS 0723 auch langgezogene, rötliche Strukturen zu sehen, die an Pfefferoni erinnern und die auf den Effekt zurückgehen sollen. Was hat es damit auf sich?

Eine Besonderheit der Gravitation ist ihre enge Verknüpfung mit dem Konzept von Raum und Zeit. Während die Raumzeit für Elektromagnetismus, schwache und starke Kernkraft nur die Bühne liefert, wirkt die Gravitation direkt auf sie ein, biegt und verzerrt sie, sodass Lichtstrahlen abgelenkt werden.

Das kann so weit gehen, dass schwere kosmische Objekte wie eine Linse wirken. Das erkannte auch Einstein – bereits in einer Publikation aus dem Jahr 1936 spricht er davon, dass ein weit entfernter Stern, der sich hinter einem anderen Stern befindet, von Teleskopen "statt als punktförmiger Stern als leuchtender Kreis" erscheinen würde. Damit hat Einstein die auf dem von Webb aufgenommenen Bild sichtbaren, länglichen Strukturen vorhergesagt. Dabei handelt es sich nämlich um nichts anderes als unvollständige Kreisbögen, die Einstein-Ringe genannt werden – auch wenn der Linseneffekt im Fall des Webb-Bildes nicht auf die Schwerkraftwirkung von Sternen, sondern von Galaxien zurückgeht. (Wer tief in ein leeres Glas schaut, kann einen ähnlichen Effekt beobachten.)

Würdigung für den Entdecker

Einstein erwähnt in seiner unnachahmlichen, bescheidenen Art gleich zu Beginn des Textes seinen Ideengeber, einen gewissen Rudi Mandl – ein tschechischstämmiger Amateurgelehrter, der in Wien Elektrotechnik studiert hatte und als Tellerwäscher arbeitete. Nachdem Mandl mit seinen Ideen bei verschiedenen anderen namhaften Wissenschaftern abgeblitzt war, bezahlte ihm das Journal "Science News Letter", wo er seine Idee zur Publikation eingereicht hatte, eine Reise zu Albert Einstein, der sich für das Konzept erwärmen konnte und versprach, einen kurzen Artikel zu publizieren, mehr aus Anerkennung für den Außenseiter denn aus Glauben an die Idee.

Trotz des Versprechens ließ Einstein auf sich warten, und es brauchte eine Erinnerung Mandls, bis der versprochene Artikel mit acht Monaten Verspätung doch noch erschien. Später soll Einstein Mandl sogar den Entdecker des Gravitationslinseneffekts genannt haben, auch wenn Einstein schon während der Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie ähnliche Gedanken niedergeschrieben hatte und die Idee heute dem russischen Physiker Daniel Khvolson zugeschrieben wird.

Inzwischen gehören Gravitationslinsen zu den großen Hoffnungsträgern der Astrophysik, weshalb auch Webb sich ihrer annimmt. Damit der Effekt zum Tragen kommt, müssen die Entfernungen allerdings im wahrsten Sinn des Wortes astronomisch sein. Im Fall des Webb-Bildes benötigte das Licht des Galaxienhaufens SMACS 0723 4,6 Milliarden Jahre, bis es von Webbs Messgeräten registriert wurde. Für eine der Pfefferonistrukturen im Hintergrund wurde hingegen eine rekordverdächtige Laufzeit von 13,1 Milliarden Jahren ermittelt. Das Universum selbst ist nur etwa anderthalb Milliarden Jahre älter. Die tatsächliche Entfernung ist sogar größer als 13,1 Milliarden Lichtjahre. Das liegt daran, dass das Universum expandiert und sich der Abstand während der Reise des Lichts weiter vergrößert hat.

Einstein-Ring und Einstein-Kreuz

Gravitationslinsen erfüllen für die Astronomie eine ähnliche Funktion wie die Linsen eines Fernrohrs. Sie vergrößern nicht nur das beobachtete Objekt, sondern helfen auch, mehr Licht einzufangen und uralte Objekte aus der Frühzeit des Universums überhaupt zu beobachten.

Ein Einstein-Kreuz, das vier Abbilder desselben Objekts zeigt, in diesem Fall ein Quasar, aufgenommen von Hubble.
Foto: NASA, ESA, and STScI

Doch Gravitationslinsen eröffnen noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten. Manchmal kommt es zu einer Vervierfachung des weiter entfernten Objekts. Die daraus entstehende Struktur wird Einstein-Kreuz genannt. Das Besondere dabei: Die vier Abbilder zeigen das Objekt üblicherweise nicht zum selben Zeitpunkt. Der Unterschied wird durch die verschieden lange Laufzeit des Lichtes der einzelnen Abbilder verursacht und kann Tage oder sogar Wochen betragen.

Explodierender Stern im Blick

Das eröffnet neue Wege zur Erforschung von Sternexplosionen. Diese lassen sich nicht vorhersagen und treten spontan irgendwo am Nachthimmel auf. Bis Teleskope darauf ausgerichtet sind, vergeht wertvolle Zeit, sodass der Beginn eines solchen Ereignisses lange Zeit nicht beobachtet werden konnte. Erst 2014 gelang es, einen explodierenden Stern zu beobachten, der von einer Gravitationslinse vervielfältigt wurde. Die Abbilder erschienen im Lauf eines Jahres an verschiedenen Stellen. Der Effekt lässt sich nutzen, um die Hubble-Konstante abzuschätzen, deren genauer Wert eine der großen offenen Fragen der Astrophysik und Gegenstand hitziger Debatten in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist.

Einstein stellte in seiner Arbeit von 1936 übrigens in Abrede, dass sich der Effekt je beobachten lasse. "Selbstverständlich gibt es keine Hoffnung, dieses Phänomen je direkt zu beobachten." Die nötige Auflösung übersteige die Leistungsfähigkeit aller Teleskope.

Mit Teleskopen wie Hubble und Webb hat er nicht gerechnet. (Reinhard Kleindl, 13.7.2022)