In Anne Teresa De Keersmaekers Stück geht es ganz besonders um unsere aktuell verstimmten Gefühle. Diese werden dynamisch gestaltet oder ins Poetische transzendiert.

Anne Van Aerschot

Sich dem Zeitgeist entgegenzustellen, das war in den Künsten immer schon ein Tanz auf Messers Schneide. Besonders riskant wird es, wenn sich – wie heute überall – die Zeitgeister scheiden, die Fronten zwischen ihnen verhärten und überhaupt alles auf der Kippe zu stehen scheint. Mit ihrem jüngsten Stück Mystery Sonatas / for Rosa demonstriert die belgische Starchoreografin Anne Teresa De Keersmaeker beim Impulstanz-Festival im Wiener Volkstheater, wie eine souveräne künstlerische Reaktion auf die Hektik der Gegenwart aussehen kann.

Erstens bleibt sie bei ihrer Zusammenarbeit mit der brillanten Violinistin Amandine Beyer, holt deren Ensemble Gli Incogniti auf die Bühne und lässt es, zweitens, sakral umflorte Barockmusik spielen. Und zwar nicht De Keersmaekers geliebten Bach, sondern die "Mysteriensonaten" des sehr speziellen, in Böhmen geborenen und in Salzburg verstorbenen Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704). Die 16 Stücke aus den "Rosenkranzsonaten" werden in Skordatur gespielt, das heißt zum Beispiel, dass für die 11. Sonate die A- und D-Saiten der Violine miteinander vertauscht werden.

Diese Technik der Instrumentenumstimmung schlägt sozusagen auf die emotionale Färbung der Klänge. Und in De Keersmaekers Stück geht es ganz besonders um unsere aktuell verstimmten Gefühle. Diese werden von sechs Tänzerinnen und Tänzern aus De Keersmaekers Kompanie Rosas aufgenommen und grenzgenial ins Poetische transzendiert. Ganz einfach hatten sie und das Musikensemble es bei der Wien-Premiere am Dienstag nicht: Eine ausgeflippte Nebelmaschine verrauchte vor Einlass den gesamten Theaterraum, und das Publikum reagierte auf die dadurch verursachte Verzögerung nachvollziehbar verstimmt.

Geometrisch präzise

Vielleicht aber hat der Unfall die Mystery Sonatas / for Rosa – mit dem sich erst im Verlauf des Stücks verziehenden Dunst – quasi noch etwas näher an unsere unberechenbar gewordene Realität gerückt. Mit geometrisch präzisen Bewegungen suchen die Tanzenden Orientierung und erstarren ab und zu in Tableaux vivants.

Weitere bewusste Irritationen: Die fragile Barockmusik wird durch den patzig instrumentierten Song Inever promised you a rose garden in der Interpretation von Lynn Anderson unterbrochen, und eine raffinierte Lichtinstallation zerreißt das Halbdunkel mit schrillen Farbstimmungen und Blitzen.

De Keersmaeker und Beyer spielen alle 16 Teile der "Mysteriensonaten" in zweieinviertel Stunden durch, was durchaus eine Herausforderung für das Publikum darstellt und daran erinnert, dass Kunst oft genau das sein muss: ein Sprengen der Erwartungen, auch wenn’s manchmal schmerzt. Trotzdem wäre es besser gewesen, dieses Stück früher und erst danach die Eröffnung der Stückreihe 8:tension für junge Choreografie anzusetzen.

Den 8:tension-Einstand machte diesmal die Österreicherin Sara Lanner mit ihrem Duett Mining Minds. In dieser ambitionierten Arbeit geht um die Ausbeutung der Natur durch den Bergbau und um Data-Mining. Das erinnert an die Doku-Performance Mining Stories von Silke Huysmans und Hannes Dereere, die Impulstanz 2018 gezeigt hat. Es erinnert auch an Amanda Piña, die in ihren Stücken den Raubbau an Bodenschätzen kritisiert, oder an Altamira 2042 von Gabriela Carneiro da Cunha, das im Vorjahr bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde.

Wahn des Bohrens

Lanner wollte offenbar weniger die Oberflächen des Aktivismus gegen den Wahn des Bohrens, Sprengens und Raffens als vielmehr das tiefere Bedeutungsgewebe dahinter erkunden. Leider scheitert Mining Minds genau an dieser schwierigen Übersetzung ins Poetische. Sara Lanner und Costas Kekis finden zu keiner Dynamik und Symbolik, die dem Drama des allgegenwärtigen analogen und virtuellen Minings samt dessen Befeuerung durch Gier und Destruktivität auch nur ansatzweise entsprechen. (Helmut Ploebst, 13.7.2022)