Das US-fabrizierte High Mobility Artillery Rocket System (Himars) gilt als wichtiger Baustein der ukrainischen Abwehrbemühungen.

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Die militärische Lage in der Ukraine stellt sich fast vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges komplex dar: Mit Sjewjerodonezk und Lyssytschansk hat Russland unlängst die letzten großen Städte des ukrainischen Regierungsbezirks Luhansk im Donbass eingenommen. Die Verluste der russischen Armee waren dabei aber so bedeutend, dass die militärische Führung in Moskau ihren Truppen eine sogenannte "operative Pause" verordnete. Zwar gehen die Kämpfe trotzdem weiter, doch ihre Intensität wurde in der Tat geringer.

Dass der russische Beschuss in den vergangenen Tagen zurückging, hat jedoch auch mit dem erfolgreichen Einsatz der US-amerikanischen Himars-Mehrfachraketenwerfer zu tun, die überwiegend dafür verantwortlich sind, dass russische Munitionsdepots im besetzten Gebiet in die Luft gehen. Für die Russen geht es aktuell darum, sich umzugruppieren und eine Offensive im Bezirk Donezk mit Blick auf die Städte Slawjansk und Kramatorsk mit ihrer gut ausgebauten Verteidigungsinfrastruktur vorzubereiten.

Gegenoffensive wird vorbereitet

Die Ukrainer bereiten dagegen eine Gegenoffensive in den südlichen Bezirken Cherson und Saporischschja vor. "Lyssytschansk und Sewerodonezk waren Verluste für die Ukraine, aber keine Tragödie", meint Oleksij Melnyk, Co-Direktor für internationale Sicherheit des Thinktanks Zentr Rasumkowa. "Die Russen haben dort nicht viel erreicht. Dass sie nun diese von ihnen verbrannte Erde eingenommen haben, hat vor allem symbolische Bedeutung, denn die Besetzung des gesamten Bezirks Luhansk war eines der wenigen klar formulierten politischen Ziele Moskaus. Faktisch hätten die Ukrainer aber eine ähnliche Umzingelung wie zuvor in Mariupol verhindert und einen bedeutenden, für die Zukunft wichtigen Teil ihrer Truppen gerettet, während die russische Armee enorme Verluste erlitten hätte.

"Sie (die russische Armee, Anm.) kamen dort deswegen voran, weil sie ihre Feuerkraft in dieser Richtung maximal konzentrierten. Wir sahen die Rückkehr zur traditionellen Kriegstaktik mit massivem Einsatz der Artillerie sowie der Luftwaffe", betont Melnyk weiter. "Die Positionen der Ukrainer im Bezirk Donezk sind gut vorbereitet. Mit diesen Verlusten wird es für die Russen schwer, im Donbass weiterzukommen."

Zusätzlich dürften sich der Ukraine laut dem Experten bald größere Chancen auf eine erfolgreiche Gegenoffensive im Süden bieten, weil Russland sich in erster Linie aus politischen Gründen auf den Osten konzentrieren muss. "Aus meiner Sicht ist es eine realistische Aufgabe für die Ukrainer, die grundsätzliche Situation an der gesamten Front zu stabilisieren. Das kann auch im Bezirk Donezk nach den Umgruppierungen der Russen passieren. Danach ist der Übergang zu einer Gegenoffensive im Süden realistisch", sagt Oleksandr Mussijenko, Chef des Zentrums für militärrechtliche Studien in Kiew. Weitere westliche Waffenlieferungen seien dafür aber dringend notwendig. "Die Mehrfachraketenwerfer Himars wirken enorm", unterstreicht Mussijenko. "Die aktuelle systematische Zerstörung ihrer Munitionsdepots ist ein riesiges logistisches Problem für die Russen, mit dem sie in der Form kaum gerechnet haben."

Mischung gefragt

Wenngleich derzeit nicht ganz klar ist, wie viele westliche Mehrfachraketenwerfer schon im Einsatz an der Front sind, wurden der Ukraine bisher mehr als 20 zugesagt, darunter auch drei Mars-II-Systeme aus Deutschland. "Das ist nicht schlecht, aber noch wenig", ordnet Mussijenko ein. "Wenn wir 50 davon hätten, wäre das optimal. Ich teile aber nicht die Meinung, dass viel zu wenig Hilfe in die Ukraine geschickt werde. Vieles entwickelt sich richtig. Wir müssen jetzt aber etwa über die Lieferung der Raketen für Himars mit größeren Reichweite reden – und auch über die Lieferung von Kampfflugzeugen, ob sowjetischer oder westlicher Bauart."

Die Mischung aus Mehrfachraketenwerfern und Kampfflugzeugen würde der Ukraine richtig gute Karten geben, glaubt Mussijenko. "Der Krieg kann aber noch sehr lange dauern. Das objektive militärische Ziel ist die Rückkehr zum Status quo vom 23. Februar, mit entsprechenden Waffenlieferungen ist das möglich. Die Aussagen des Verteidigungsministers Resnikow über die ukrainische 'Millionenarmee' sind sicher etwas übertrieben, doch personell sind wir alles andere als unterlegen. Die Kräfte der Russen haben ja auch klare Grenzen."

Insgesamt seien Kriegsprognosen schwierig, Mussijenko geht jedoch davon aus, dass der Positionskrieg auch im nächsten Jahr weitergehen könnte, auch falls die aktive Phase noch 2022 zu Ende geht. Daher sind stabile Waffenlieferungen auch aus der Sicht von Oleksij Melnyk umso wichtiger. "Die Stimmen im Westen mit Forderungen zur Einstellung der Militärhilfe sind gerade jetzt, in der aktuellen Phase, wenn die Ukraine sich auf einige Gegenoffensiven vorbereitet, fatal und schädlich." (Denis Trubetskoy aus Kiew, 15.7.2022)