Viele Menschen spüren die steigenden Preise derzeit etwa an den Tankstellen.

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In den vergangenen Wochen waren immer wieder eindringliche Warnungen zu hören: Österreich werde aufgrund der Inflation, des Ukraine-Kriegs und der Energiekrise an Wohlstand verlieren. Denn der Wohlstand des Landes und "der österreichische Traum vom Einfamilienhaus am Land" basiere auch auf billigem Gas aus Russland, sagte etwa WKO-Präsident Harald Mahrer vor kurzem in einem Interview.

Auch in Deutschland sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz vor einigen Monaten: "Wir haben wahrscheinlich – jedenfalls für eine gewisse Zeit – den Höhepunkt unseres Wohlstands hinter uns", und bezog sich damit auf die hohe Inflation und die Prognosen für das Wirtschaftswachstum. Und auch der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen fand kürzlich klare Worte: "Wir werden alle ärmer werden."

Ganz so klar sind die Warnungen allerdings nicht. Denn Wohlstand bedeute nicht nur Einkommen und Wirtschaftswachstum, sagt Ulrich Brand, Politikwissenschafter an der Universität Wien. Er sieht in den aktuellen Krisen die Chance für eine Neudefinition, was Wohlstand in unserer Gesellschaft eigentlich bedeutet und wie wir auch in Zukunft ein lebenswertes Leben führen können.

STANDARD: Herr Brand, müssen wir uns angesichts der aktuellen Krisen tatsächlich Sorgen um unseren Wohlstand machen?

Brand: Ja, wir müssen uns Sorgen um einen bestimmten Wohlstand machen. Denn unsere bestehenden Vorstellungen von Wohlstand – vom Einfamilienhaus auf dem Land, vom Besitz eines Erst- und Zweitwagens und von billigen Flügen – werden sich verändern müssen. Weil diese Art des Wohlstands einfach zu ressourcenintensiv ist. Die Frage ist: Wie können wir Wohlstand halten, im Bereich der Mobilität, der Ernährung oder des Wohnens, der weniger ressourcenintensiv ist, aber trotzdem eine hohe Lebensqualität hat? Es gibt viele Menschen, die sich kein Einfamilienhaus am Land, kein Zweitauto oder Flüge leisten können. Gleichzeitig gibt es Leute, die haben das Zweithaus am Wörthersee und das Dritthaus auf Ibiza. Es geht also nicht nur darum, wer zu wenig, sondern auch darum, wer deutlich zu viel Wohlstand hat.

STANDARD: Sie sprechen von einer bestimmten Art des Wohlstands. Wie lässt sich Wohlstand überhaupt definieren?

Brand: Einerseits gehören dazu die objektiven Bedingungen: Dass Menschen ein auskömmliches, sinnerfülltes Leben führen können. Dazu gehört die Basisversorgung in der Gesundheit, Bildung, Mobilität und von Nahrungsmitteln. Daneben gibt es den Aspekt der Lebensqualität und der Lebenszufriedenheit, die sehr subjektiv sind. Menschen können reich sein und trotzdem unglücklich. Oder sie kaufen gerade deshalb viel ein, weil sie unglücklich sind, und kompensieren das damit. Was eine gute Lebensqualität ausmacht, hängt natürlich an den objektiven Bedingungen, aber auch an gesellschaftlichen Diskursen wie etwa "Geiz ist geil" oder "Kauf dich glücklich". Häufig wird Wohlstand immer noch mit Wirtschaftswachstum und dem Bruttoinlandsprodukt gleichgesetzt. Natürlich ist in Österreich mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt und damit für viele Menschen ein anderer materialer Wohlstand da als in einem Land mit einem niedrigen. Aber es gibt auch eine Entkoppelung: Es gibt einen Überwohlstand und Umweltzerstörung, Unglück trotz Reichtum. Die Gleichsetzung von Wohlstand und Wachstum gilt so nicht mehr, obwohl sie politisch und in der Öffentlichkeit weiterhin sehr dominant ist.

Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und forscht dort vor allem zu internationaler Umwelt- und Ressourcenpolitik.
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STANDARD: Wer wäre von einem Wohlstandsverlust aufgrund der aktuellen Krisen besonders betroffen?

Brand: Das hängt davon ab, wie ungleich eine Gesellschaft ist und wie gut die soziale Absicherung funktioniert. Wenn auf eine bestehende Ungleichheit eine weitere Krise trifft, wie etwa die Corona-Krise, die Klimakrise oder eine Wirtschaftskrise, dann wird es vor allem die Schwächeren treffen. Es ist die Aufgabe der Politik, gegenzusteuern, damit die Schwächeren von den Krisen weniger stark betroffen sind.

STANDARD: In Österreich wird ja gerade über die Maßnahme eines Strompreisdeckels diskutiert. In Deutschland wiederum gibt es von Juni bis August einen Tankrabatt durch die Senkung der Energiesteuer. Wie sinnvoll sind solche Maßnahmen?

Brand: Ich halte es für einen politischen Fehler, wenn solche Maßnahmen alle betreffen. Besser als eine generelle Mehrwertsteuersenkung wären Zuschüsse für bestimmte Gruppen. Denn eine Mehrwertsteuersenkung nützt Wohlhabenden, die es gar nicht nötig haben, viel mehr als ärmeren Gruppen. Grundsätzlich sind Gesellschaften, in denen der materielle Wohlstand nicht nur am Einkommen, sondern auch an sozialen Infrastrukturen bzw. guter öffentlicher Daseinsvorsorge hängt, resilienter gegenüber einer Wohlstandskrise. Österreich ist dahingehend zumindest besser aufgestellt als andere Länder.

STANDARD: Gerade in der Mittelschicht kämpfen viele mit Abstiegs- und Zukunftsängsten, heißt es immer wieder in Umfragen. Wie berechtigt sind die Sorgen vieler Menschen?

Brand: Die Sorgen sind durchaus verständlich. Wir müssen sie ernst nehmen, weil diese sonst von den politisch Rechten abgefischt werden. Dort heißt es "Migranten müssen raus" und "Wir müssen unseren Wohlstand hierbehalten". Nur zu sagen, die da unten oder in der Mitte steigen ab und sollen schauen, wo sie bleiben, geht nicht. Auch hier muss politisch gegengesteuert werden. Oft wird dabei aber vergessen, dass eine solidarische Gesellschaft auch von oben einsammeln muss: Es braucht beispielsweise eine Vermögenssteuer und eine Erbschaftssteuer, damit das Gemeinwesen finanziert werden kann. Außerdem müssen wir uns fragen, aus was die Abstiegs- und Zukunftsangst genau besteht: Ist es die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren? Ist es eine diffuse Angst, etwa aufgrund der Klimakrise? Und wenn die Ängste politisch instrumentalisiert werden, sollten wir das jedenfalls hinterfragen.

STANDARD: Durch den Wohlfahrtsstaat wurde Wohlstand in Österreich für die allermeisten Österreicherinnen und Österreicher in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter abgesichert, bezogen etwa auf die Gesundheits-, Arbeitslosen- und Pensionsversicherung. Gleichzeitig stößt das Modell durch die Alterung der Bevölkerung zunehmend an seine Grenzen. Müssen wir uns vom Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn heute kennen, bald verabschieden?

Brand: Wir haben wahrscheinlich bald ein Finanzierungsproblem unseres Wohlfahrtsstaats, wenn wir nicht klug gegensteuern. Mein Plädoyer wäre aber, den Wohlfahrtsstaat künftig sogar noch auszubauen. Es ist eine historische Errungenschaft, dass Menschen von der Gesellschaft solidarisch gegen große Lebensrisiken wie Krankheiten oder Arbeitslosigkeit geschützt werden, dass es professionelle Kindererziehung und Sorge um die Pflegebedürftigen gibt. Wenn wir die Klimakrise ernst nehmen und uns auch an die Folgen des Klimawandels, etwa an die Hitze und Starkregen in den Städten, anpassen müssen, brauchen wir einen Ausbau hin zum ökologischen Sozialstaat. Damit können wir Menschen gegen diese Risiken schützen.

STANDARD: Wie soll das finanziert werden? Werden wir dafür künftig länger arbeiten und später in Pension gehen müssen?

Brand: Es gibt hier kein "one size fits all". Wenn Menschen hart arbeiten und an ihre körperlichen und geistigen Grenzen kommen, ist es gut, wenn sie früher in Pension gehen oder ihre Arbeitszeit verkürzen können. Statt zu sagen, irgendwann müssen alle bis 70 arbeiten, sollten wir schauen, welche Möglichkeiten und ob es vielleicht den Wunsch gibt, länger zu arbeiten. Etwa, dass durch Arbeit in der Pension die Pension nicht gekürzt wird und dass sich Menschen diese Arbeit gut und sinnvoll anrechnen können. Außerdem sollten wir die Lohnarbeit nicht so sehr ins Zentrum stellen. Denn Wohlstand wird nicht nur über die Produktion von Autos oder Nahrungsmittel geschaffen, sondern hängt ganz stark an unbezahlter Erziehungsarbeit, der Pflege von Eltern oder Verwandten und dem Ehrenamt.

STANDARD: Auch der Klimawandel und dessen Folgen werden unseren Wohlstand gefährden, prognostizieren Experten. Gleichzeitig nehmen viele auch Klimaschutzmaßnahmen als Verzicht und als Wohlstandsgefährdung wahr. Warum hält sich diese Vorstellung so hartnäckig?

Brand: Wenn wir weiterhin am jetzigen Wohlstandsmodell festhalten, das uns billiges Fleisch, Benzin, Flüge und ein Eigenheim am Land verspricht, dann wird das durch den Klimaschutz unter Druck geraten. Denn Klimaschutz heißt weniger Fleischkonsum, weniger Treibstoff für Autos etc. Wenn wir aber offen sind für ein anderes Wohlstandsmodell, dann muss Klimaschutz kein Verzicht sein. Das Problem ist, dass es sehr starke politische und wirtschaftliche Kräfte gibt, die sagen: "So, wie es ist, ist es gut." Der Flughafen Wien will wachsen, die Autoindustrie und die industrielle Landwirtschaft ebenso. Dabei geht es auch um wirtschaftliche Interessen und politische Macht.

STANDARD: Wie soll ein solches anderes Wohlstandsmodell aussehen?

Brand: Es ist eine Wirtschaft, die mit weniger Emissionen, Ressourcen und Energie auskommt. In der die Landwirtschaft nicht von massiven Inputs aus dem Ausland, wie beispielsweise Soja für Tierfutter, abhängig ist. In der es ein Mobilitätssystem gibt, das auf öffentlichem Verkehr basiert und das auf kurze Wege setzt. In der wir aus der Selbstverständlichkeit der Automobilität und des Fliegens rauskommen. Eine Wirtschaft, die nicht auf Kosten anderer und der Natur geht.

STANDARD: Vor allem Globalisierungskritiker sehen im Zuge der aktuellen Krisen einen Trend hin zur Deglobalisierung, also dem Rückzug einiger Länder aus internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen, hin zu einer regionalen Produktion von Gütern und Energie. Eindeutig empirisch belegt ist dieser Trend allerdings nicht. Welche Folgen hätte er?

Brand: Deglobalisierung heißt zuerst einmal, die lokalen Kräfte zu stärken – auch im Globalen Süden, wo Menschen durch Landkonzentration, Vertreibung und Monokulturen sehr stark unter Druck gesetzt werden. Es geht darum zu fragen: Was kann möglichst lokal und regional produziert werden? Das heißt nicht, sich von der Weltwirtschaft abzukoppeln. Aber es heißt, weniger abhängig vom Weltmarkt zu sein. In Österreich hätten wir dann nicht jahrzehntelang auf billiges Gas aus Russland gesetzt, sondern wären bei der Energiewende wahrscheinlich schon viel weiter.

STANDARD: Bieten die Krisen nun nicht auch die Chance, bestimmte Veränderungen, etwa hinsichtlich des Klimaschutzes, einzuleiten?

Brand: In diesen Krisen steckt durchaus das Potenzial, umzusteuern. Die Gefahr ist, dass man danach wieder zurück zum Alten geht. Wir sehen das aktuell, wenn wieder auf Flüssiggas, auf Atomkraftwerke oder Kohle gesetzt wird. Auch die Umstellung auf E-Autos ist extrem strom- und ressourcenintensiv. Das Prinzip der Automobilität wird damit nicht infrage gestellt, Energie- und Ressourcenbedarf bleiben hoch. Einfach nur kleine Änderungen und ein bisschen mehr Erneuerbare nach der Krise aufzustellen wird sich energetisch nicht ausgehen. Und die Länder des Globalen Südens werden weiterhin unter der Ausbeutung ihrer Ressourcen wie Kupfer und Lithium für E-Autos leiden.

STANDARD: Sie plädieren für eine größere Transformation. Wie soll diese gelingen?

Brand: Wir sollten die heute dominante "imperiale Lebensweise" in eine "solidarische Lebensweise" umbauen – das Grundprinzip wäre, möglichst nicht auf Kosten anderer und der Natur. Dabei sollten wir Wohlstand nicht nur am Wirtschaftswachstum messen, sondern daran, wie sozial fair und ökologisch materieller Wohlstand produziert und verteilt ist, wie gut die Erwerbsarbeit und andere Formen von Arbeit in der Gesellschaft organisiert sind, wie hoch die Lebensqualität und wie stabil und ökologisch unsere Wirtschaft ist.

Und wir sollten die notwendigen großen Veränderungen nicht auf die Schultern der Einzelnen legen. Dafür, dass jeder Einzelne sagt, dass er sein Auto verkauft, weniger Fleisch isst oder weniger fliegt, braucht es die richtigen Bedingungen: ein europäisches Zugnetz, gute und leistbare ökologische Nahrungsmittel, öffentlichen Verkehr und saubere Energie. Es ist die Aufgabe der Regierung, diese Umbauprozesse zu beschleunigen und etwa zu sagen: Wir benötigen ein Mobilitätssystem, das nicht mehr auf Automobilität basiert. Auch nicht auf E-Autos. (Interview: Jakob Pallinger, 18.7.2022)