Wien – Eine gute Situation sieht anders aus: Darüber ist man sich EU-weit einig, wenn in den kommenden Winter vorausgeblickt wird. Dass alle Staaten in der Gemeinschaft auf gleiche Weise betroffen wären, kann man aber sicher nicht behaupten – und schon gar nicht, dass die Maßnahmen überall die gleichen wären. Die einen sehen sich bereits gut gewappnet – die anderen versuchen mit aufsehenerregenden Notmaßnahmen die eigene Hilfslosigkeit zu kaschieren. Ein Blick über die Grenzen der österreichischen Innenpolitik:

Tschechien: Das EU-Vorsitz-Land ringt um Unabhängigkeit

Tschechien hat die Energiepolitik zur wichtigsten Priorität seiner derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft erklärt und will federführend mitwirken an Beschaffung und Verteilung von Gas in Europa. Gleichzeitig aber verspricht Premier Petr Fiala seinem Volk, für die "Energieunabhängigkeit" des eigenen Landes zu sorgen.

Protest gegen russisches Erdgas in Prag.
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Die Ängste, die er damit anspricht, sind nicht unbegründet. Tschechiens Gasversorgung ist fast zur Gänze von Lieferungen aus Russland abhängig. Für Fiala hängt das nicht nur mit der Zeit vor 1989 zusammen, als die damalige Tschechoslowakei Teil des sowjetischen Machtblocks war: Noch vor fünf Jahren habe man etwa ein Viertel des Gases aus Norwegen bezogen. Dass Prag dann wieder mehr in die Abhängigkeit von Moskau manövriert wurde, lastet Fiala der Vorgängerregierung an.

Auf der Suche nach Auswegen spielt nun unter anderem Flüssiggas eine wichtige Rolle. Kürzlich hat Tschechien Anteile an Kapazitäten von LNG-Terminals in den Niederlanden erworben. Mit dem Gas von dort könnte ein Drittel des heimischen Bedarfs gedeckt werden, heißt es im Prager Industrieministerium. Zudem soll die geplante Pipeline Stork 2 künftig Gas von LNG-Terminals an der polnischen Ostseeküste nach Mitteleuropa pumpen. Davon profitieren könnten auch Österreich und die ebenfalls relativ stark von Russland abhängige Slowakei.

Bis diese und andere Schritte in Richtung energiepolitischer Souveränität wirksam werden, könnte es aber noch "mindestens zwei bis fünf Jahre" dauern, räumt auch Premier Fiala ein. Bis dahin verspricht er – ähnlich wie seine Amtskolleginnen und Amtskollegen in anderen EU-Ländern – Haushalte und Industrie finanziell zu unterstützen, um Engpässe bestmöglich abzufangen.

200 Euro für jeden zweiten Italiener sollen die Not abfangen

Die gestiegenen Energiepreise – und die Teuerung ganz allgemein – sind auch Gesprächsstoff in Italien, doch die Diskussionen verlaufen unaufgeregter als anderswo. Das liegt an Regierungschef Mario Draghi: Der ehemalige EZB-Präsident hat für seine Landsleute früher und mehr als andere getan, um die Preisexplosion abzufedern. Die Regierung hat schon am 22. März – als erste in Europa – die Mineralölsteuer um 30 Cent pro Liter gesenkt. Die Maßnahme galt zunächst nur für einen Monat, ist aber inzwischen bereits dreimal verlängert worden und endet nun frühestens Ende Juli. Sie wird finanziert durch die gestiegenen Einnahmen aus der Mehrwertsteuer und mit der Abschöpfung eines Teils der Extragewinne der Energiekonzerne.

Mario Draghi war stolz auf seine Maßnahmen – bis seine Regierung ins Wanken geriet.
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Eine weitere Maßnahme zur Abfederung der gestiegenen Lebenskosten schien kurz bevorzustehen: Mit dem Juli-Zahltag werden alle Italienerinnen und Italiener, deren Bruttoeinkommen unter 35.000 Euro liegt, einen staatlichen Einmalzuschuss von 200 Euro erhalten. Insgesamt werden 31,5 Millionen Personen von dem Bonus profitieren, also etwas mehr als die Hälfte der Wohnbevölkerung Italiens. Allerdings: Im Streit um die genaue Ausgestaltung kam am Donnerstag die Regierung ins Wanken.

Italien, das ähnlich stark von russischen Gaslieferung abhängig ist wie Deutschland, arbeitet auch mit Hochdruck an der Bereitstellung von Alternativen und kommt damit gut voran. Hilfreich sind dabei die bestehenden Pipelines von Algerien und Libyen durch das Mittelmeer nach Sizilien.

Die Slowakei wagt kleine Schritte aus Moskaus Schatten

Es ist noch nicht allzu lange her, da bezog die Slowakei ihr Gas zu 100 Prozent aus Russland. Seit 2009 aber hat das Land, das im Westen an Österreich und im Osten an die Ukraine grenzt, seine Abhängigkeit von russischem Gas schrittweise reduziert. Als Mitte Juni 2022 gemeldet wurde, dass der russische Energiekonzern Gazprom nur noch 50 Prozent der vertraglich zugesicherten Gasmenge lieferte, war die Überraschung nicht allzu groß: Bereits in den Tagen zuvor waren die Lieferungen vonseiten Moskaus schrittweise gedrosselt worden. Wirklich sorgenfrei konnte man in Bratislava dennoch nicht auf die Situation blicken; immerhin kamen nach wie vor 80 Prozent des Gases aus Russland.

Russland dreht den Gashahn für die Slowakei immer weiter zu. Die Regierung ist trotzdem zuversichtlich für den Winter.
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Mittlerweile aber gibt man sich in der Regierung einigermaßen gelassen – zumindest was die unmittelbare Zukunft betrifft: Laut Wirtschaftsminister Richard Sulík sind die Speicher der Slowakei so weit gefüllt, dass das Gas für die kommende Heizsaison reichen wird. Auch ohne Gas aus Russland sei das Land "bis Ende März 2023 versorgt", sagte Sulík. Zugute kommt der Slowakei dabei unter anderem, dass der staatliche Versorger SPP seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine Abkommen für norwegisches Gas sowie für Lieferungen von Flüssiggas abgeschlossen hat.

Frankreich fühlt sich gewappnet, plant aber harte Maßnahmen

Die Preissteigerungen beherrschen noch immer die politische Debatte: schon im Wahlkampf um Präsidentenamt und Parlament und jetzt noch immer. Aus Angst vor neuen Gelbwesten- oder anderen Sozialprotesten hat die französische Regierung Benzin auf Staatskosten um 18 Cent reduziert und andere Energiepreise gedeckelt. Präsident Emmanuel Macron führte die vergleichsweise niedrige Inflationsrate auf diese Maßnahme zurück. Mittlerweile erreicht die Inflation im Land aber auch 5,8 Prozent.

Inflation ist in Frankreich noch immer das politische Thema Nummer eins.
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Den Winter hingegen hofft Frankreich relativ gut zu überstehen, zumindest im Vergleich zu anderen großen EU-Staaten. Von seinen 57 Atomreaktoren steht zwar derzeit fast die Hälfte still, hauptsächlich wegen Wartungsarbeiten. Die Gaslager sind allerdings bereits zu 63 Prozent gefüllt. Landesweit stehen außerdem vier Flüssiggas-Terminals für Lieferungen von LNG aus Norwegen oder den USA zur Verfügung. Frankreich könnte darüber hinaus auch Kohlekraftwerke wieder anwerfen.

Die Energiekonzerne EDF, Engie und Total Energies rufen die Bevölkerung trotzdem schon jetzt zum Energiesparen auf. Um einen Blackout zu verhindern, kann die Regierung in einem ersten Schritt 22 Industrieanlagen kappen; in zweiter Linie könnte sie am Morgen oder am frühen Abend auch Strom in Haushalten limitieren.

Böses Erwachen aus Orbáns falscher Sicherheit in Ungarn

Rechtspopulist Viktor Orbán wiegte die Bevölkerung jahrelang in falscher Sicherheit – wie man nun langsam merkt. Die Verträge mit Russland würden Ungarn billiges und zuverlässig geliefertes Gas garantieren, tönte der autoritäre Regierungschef bei vielen Gelegenheiten. Und lange Jahre hatte das auch einen wahren Kern: Seit 2014 zahlen die Ungarn für Strom und Gas einen fixen Preis. Dieser macht heute gerade einmal elf bis 15 Prozent des aktuellen Marktpreises aus.

Die enge Männerfreundschaft mit Wladimir Putin schützt Viktor Orbán nicht – meinen nicht nur Demonstrierende.
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Die Wohnnebenkosten-Bremse, die unter anderem dadurch möglich wurde, war Orbáns wirkungsvollste Wahlkampfparole, bis hin zur letzten Wahl im April, bei der seine Fidesz-Partei erneut deutlich siegte. Doch Kremlherr Wladimir Putin, zu dem Orbán ein auffallend gutes Verhältnis pflegt, hält auch in Ungarn die Hand auf. Das Donauland zahlt den Börsenpreis. So musste Orbán jetzt der heiligen Kuh Wohnnebenkosten ans Leder.

Am Mittwoch rief die Regierung den Energienotstand aus, der ihr zusätzliche Durchgriffsmöglichkeiten gibt. Zudem beschloss sie, dass der Fixpreis, den die Regierung ihren Bürgerinnen und Bürgern bisher garantierte, ab August nur mehr für den Durchschnittsverbrauch gelten wird. Dieser bemisst sich bei 144 Kubikmeter Gas und 210 Kilowattstunden Strom im Monat. Wer mehr verbraucht, zahlt künftig den viel teureren Marktpreis.

Litauen hat sich eine schwimmende Lebensversicherung gebastelt

Litauen hat Erfahrung mit dem Leben auf Sparflamme. 1990, als sich das baltische Land von der Sowjetunion lossagte, stellte Moskau seine Gas- und Öllieferungen kurzerhand für drei Monate ein. 2009, nach der Abschaltung des Atomkraftwerks in Ignalina, gerieten die 2,8 Millionen Litauerinnen und Litauer abermals in Energienot; Russland trieb daraufhin den Preis für sein – damals in Litauen noch lebensnotwendiges – Gas auf Rekordhöhe. In der kleinen EU- und Nato-Republik hat man daraus gelernt: Litauens Flüssiggasterminal (LNG), das seit 2015 auf einem fast 300 Meter langen Schiff im Ostseehafen Klaipėda vertäut liegt, macht das Land faktisch unabhängig von Russlands Goodwill – jedenfalls was das Druckmittel Gas betrifft.

Der Stolz Litauens: der LNG-Terminal vor der Küste.
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Anfang April, wenige Wochen nach Kriegsbeginn also, stoppte Litauen – gemeinsam mit den Nachbarn Estland und Lettland – als erstes EU-Land komplett den Import russischen Gases.

Möglich machte dies die schwimmende LNG-Anlage in Klaipėda. Dort kann fast doppelt so viel Flüssiggas von Schiffen aus den USA, Ägypten und Norwegen übernommen, gasförmig gemacht und in das Netz eingespeist werden, wie es für Litauen nötig wäre. Über Pipelines wird das Gas in die baltischen Nachbarländer, nach Finnland und Polen geleitet. Was Litauen betrifft, hat Russland ein Druckmittel weniger. Die Inflation macht dennoch Sorgen: Sie lag im Juni 2022 bei rekordverdächtigen 20 Prozent.

Spaniens Regierung schoss ein politisches Eigentor

Spanien war eines der wenigen weitgehend von russischen Gaslieferungen unabhängigen Länder der EU, als der Ukraine-Krieg ausbrach. Die Betonung liegt auf "war". Das Land auf der Iberischen Halbinsel ist mit zwei Pipelines mit den Erdgasfeldern in Algerien verbunden. Mehr als die Hälfte der Importe kamen von dort. Bis Ministerpräsident Pedro Sánchez die Algerier im völlig falschen Moment verstimmte: Er näherte sich im Frühjahr dem Nachbarn und Erzrivalen Algeriens, Marokko, zu stark an. Vor allem erkannte er die Hoheit der Marokkaner über die besetzte ehemalige spanische Kolonie Westsahara an und verstimmte Algier, das dort die Befreiungsbewegung Polisario unterstützt, die – wie auch die Vereinten Nationen – ein Referendum über die Unabhängigkeit des umstrittenen Landstrichs fordert.

Spaniens Anteil an russischem Gas ist in den vergangenen Monaten gewachsen – weil Algerien nur noch streng nach Vertrag schickt.
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Algerien drehte bereits vor einem Jahr den Hahn an einer der beiden Pipelines zu – an jener, die durch Marokko läuft. Bei der anderen – direkt durchs Mittelmeer – herrscht so etwas wie Lieferung nach Vorschrift. Aber mehr gibt es nun nicht mehr. Die ausbleibenden Lieferungen werden mit Flüssiggas aus den USA gedeckt – und aus Russland. Gazprom schickte im vergangenen Monat per Schiff 24,4 Prozent des gesamten Verbrauchs nach Spanien. Vor einem Jahr waren es gerade einmal acht Prozent. Algerien hält nur noch 21,6 Prozent am Import. Vor dem neuen Westsahara-Konflikt waren es über 50.

Auch in Slowenien und Kroatien drückt die Inflation

Auch in den beiden EU-Staaten auf dem Westbalkan drückt der Schuh vor allem bei der Teuerung. In Kroatien sind die Preise insgesamt um mehr als zehn Prozent gestiegen. Lebensmittel und Getränke sind sogar um 15 Prozent teurer geworden, der Transport um 19 Prozent. Viele Bürger bringen das mit der geplanten Einführung des Euro Ende des Jahres in Verbindung, die damit aber nichts zu tun hat.

Bereits am 1. April wurden in Zagreb, das bisher stark von russischen Gaseinfuhren abhängig war, Stützungsmaßnahmen in der Höhe von fast 4,8 Milliarden Kuna (640 Millionen Euro) beschlossen, vor allem Mehrwertsteuersenkungen auf bestimmte Produkte. Die Regierung hat auch eine Garantie abgegeben, dass Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser in der Zukunft ausreichend mit Energie versorgt werden, um Heizungen und Elektrizität laufen lassen zu können.

Kleinere Tankstellen in Kroatien schlossen wegen des staatlichen Preisdeckels ihre Pforten.
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Sloweniens neuer Premier Robert Golob sprang bei Amtsantritt direkt ins kalte Wasser. Im Wahlkampf war er für grüne Energie, Medienfreiheit und Achtung der Rechtsstaatlichkeit eingetreten – nun aber muss auch er der Inflation Herr werden. Am 22. Juni stiegen die Preise für Normalbenzin und Diesel um fast 20 Cent pro Liter an, weil die Regierung Stützungsmaßnahmen strich. Zu den flankierenden Hilfsmaßnahmen gegen die Teuerung gehören Subventionen für Landwirte, den Verkehr – und für die Presseberichte über Preise. (schub, straub, brä, gma, flon, rw, awö)