Das in die Jahre gekommene tschechische AKW Dukovany ist nur 40 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt.

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Telefonieren Sie noch über Festnetz? Hören Sie sich noch die neuesten Kassetten mit Ihrem Walkman an? Oder ärgern Sie sich etwa täglich über die Auflösung Ihres Röhrenbildschirms? Für die meisten wird die Antwort Nein lauten. Technologie, die mehrere Jahrzehnte auf dem Buckel hat, ist in der Regel heute veraltet und wird nicht mehr verwendet. Alt ist nicht gleich schlecht – doch wenn es um kritische Infrastruktur geht, etwa um Sicherheit oder Energieversorgung, verlassen wir uns gerne auf den neuesten Stand der Technik.

Umso erstaunlicher, dass ein Großteil der Kernkraftwerke der Welt zwischen dreißig und vierzig Jahre alt ist. Obwohl Betreiber ihre AKWs laufend warten und neue Sicherheitsmaßnahmen installieren, hat sich das Design der Reaktoren im Wesentlichen seit den Fünfzigern nicht verändert: Die meisten Kernkraftwerke laufen mit Druckwasser- oder Siedewasserreaktoren.

Das schweizerische Kernkraftwerk Beznau brüstet sich mit 300 Millionen Tonnen eingespartem Kohlendioxid. Mit über 50 Jahren gilt es als Europas ältestes AKW.
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Probleme der Kernkraft

Kürzlich stufte das EU-Parlament Gas und Kernkraft als Brückentechnologien ein. Die geringen Treibhausgas-Emissionen sollen diesen Schritt rechtfertigen, so die Argumentation der EU. Auch die deutschen Grünen schließen den längeren Betrieb einiger AKWs nicht mehr kategorisch aus. Die Kritik fiel heftig aus: AKWs seien unsicher und würden hochradioaktiven Abfall hinterlassen. Außerdem fördere die EU-Entscheidung Investitionen in die Kernkraft und würde so die Umstellung auf ein vernetztes, smartes Energiesystem auf Basis der Erneuerbaren behindern.

Viele dieser Kritikpunkte sind zutreffend, auch wenn Kernkraft längst nicht so gefährlich ist, wie ihr Ruf suggeriert. Berechnet man die Todesfälle pro produzierter Energie, schneidet Kernkraft um Längen besser ab als fossile Energieträger, insbesondere als Kohle: Braunkohle ist für 33 Todesfälle pro Terawattstunde verantwortlich, Kernkraft nur für 0,03. Wohlgemerkt fließen in diese Statistik die Todesfälle ein, die auf Super-GAUs zurückzuführen sind. Denn während Reaktorunfälle tragische, aber seltene Ereignisse sind, stoßen Kohlekraftwerke beständig Feinstaub aus, der die Gesundheit der Anrainer belastet.

Auch in Österreich wird Atommüll gelagert: In Seibersdorf in Niederösterreich lagern schwach radioaktive Abfälle aus nuklearer Forschung und Medizin.
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Zwar gehen Kernkraftwerke anders als Kohlekraftwerke vergleichsweise sparsam mit ihrem Brennstoff um: Wenige Kilogramm Uran liefern dieselbe Energie wie ein Berg von Kohle. Dennoch hinterlassen AKWs erhebliche Mengen unterschiedlich lang strahlenden Atommülls. Im Vergleich zu den giftigen Abfallprodukten anderer Industriezweige ist die Menge an Atommüll zwar gering, doch aufgrund der Radioaktivität schwerer zu handhaben. Insgesamt sind die Probleme der Kernkraft und der Endlagerung dennoch schwerwiegend.

Seit es AKWs gibt, arbeitet man folglich daran, Kernkraft effizienter zu machen und die Menge an Atommüll zu reduzieren. Einerseits wurden alternative Reaktortypen entwickelt, die noch sparsamer mit ihrem Brennstoff umgehen. Andererseits gibt es Verfahren, um radioaktiven Müll zu entschärfen. Die spannende Frage bleibt jedoch, ob diese neueren nuklearen Technologien ausreichen werden, um der Kernkraft einen klima- und umweltfreundlichen Platz in der Energieversorgung der Zukunft zu sichern.

Brennstoff erbrüten

Seit Jahrzehnten forschen Ingenieurinnen und Ingenieure an fortschrittlichen Reaktordesigns. Bekanntheit erlangte etwa das Konzept des Schnellen Brüters. Die Idee ist, dass ein Teil der durch Kernspaltung freiwerdenden Neutronen wieder spaltbares Material erzeugt. Kernbrennstoff besteht zum überwiegenden Teil aus nicht spaltbarem Uran-238. Trifft ein Neutron auf den Atomkern dieses Uranisotops, kann es in Plutonium-239 umgewandelt werden, einen spaltbaren Kern. Schnelle Brüter sollen so mehr Brennstoff produzieren, als sie verbrauchen. Dazu müssen im Reaktor aber genügend Neutronen sein, um gleichzeitig die Kettenreaktion aufrechtzuerhalten und neuen Brennstoff zu erbrüten.

Der orange Reaktorkern einer der beiden russischen Schnellen Brüter versorgt die Region Swerdlowsk mit Energie.
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Wer hier an gemütliche Nester denk, irrt: Schnelle Brüter sind wahre Monster. Um die nötige Neutronenanzahl zu erreichen, verwenden sie nicht nur höher angereichertes Uran, sondern haben auch statt Wasser flüssiges Natrium als Kühlmittel – bei Temperatur von vielen Hundert Grad Celsius. Dadurch sind die Neutronen insgesamt schneller, was das Brüten begünstigt. Die Reaktoren erlauben, im Prinzip das gesamte Uran zur Energiegewinnung zu nutzen.

Riskante Technologie

Weltweit sind einige Anlagen dieses Typs in Betrieb, doch nur in Russland stehen zwei kommerziell genutzte Schnelle Brüter. "Russland hat aber eine andere Zulassungspraxis als Europa. Dort sind auch noch Reaktoren vom Typ Tschernobyl in Betrieb", sagt Nikolaus Müllner vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur Wien (Boku). Schnelle Brüter haben entscheidende Nachteile: Unter anderem muss sichergestellt werden, dass Natrium und Sauerstoff nicht in Kontakt kommen, da beide explosiv reagieren.

Darüber hinaus muss der bebrütete Brennstoff aufwendig wiederaufbereitet werden, bevor er in normalen AKWs zum Einsatz kommen kann. "Das heißt, man braucht deutlich mehr kerntechnische Anlagen, wodurch das Risiko der Proliferation steigt, also der Weiterverbreitung der für Kernwaffen nötigen Materialien und Technologien", erklärt Friederike Frieß. Die Physikerin der Boku ist Co-Autorin eines Gutachtens für die deutsche Endlagerungsbehörde. In diesem Bericht zur Transmutation abgebrannter Brennstäbe, an dem auch Müllner beteiligt ist, bewerten die Fachleute Verfahren zur Wiederaufbereitung von Atommüll.

Insgesamt wirken Schnelle Brüter unattraktiv. Dennoch werden laufend ähnliche Reaktoren entwickelt, die nicht in erster Linie brüten, aber ebenfalls mit schnellen Neutronen arbeiten. Solche Reaktoren können kompakter gebaut werden. Geht es nach ihren Entwicklern, sollen die kleinen "Reaktörchen" bald entlegene Gegenden dezentral mit Energie versorgen.

Das Reaktorloch des Schnellen Brüters Kalkar. Der Reaktor scheiterte an einer Kostenexplosion und politischen Protesten. Er ging nie in Betrieb. Heute ist auf dem Gelände ein Vergnügungspark.
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Energieerzeugung unter Hochdruck

Ein anderer Ansatz ist der Superkritische Wasserreaktor. Er nützt einen Trick, den sich Ingenieure von Kohlekraftwerken abgeschaut haben: Wasser geht bei einer Temperatur von über 474 Grad Celsius und einem Druck von über 221 bar in einen anderen Zustand über: Es wird überkritisch. In diesem Druck- und Temperaturbereich kann Wasser stark erhitzt werden, ohne dass es zu einem Phasenübergang kommt. Hat aber das Kühlmittel eine noch höhere Temperatur, verbessert sich der Wirkungsgrad stark.

Legt man dieses Prinzip auf Kernkraftwerke um, könnte man mit weniger radioaktivem Inventar im Reaktor die gleiche Leistung erzeugen. Superkritische Wasserreaktoren könnten einen Wirkungsgrad von bis zu 45 Prozent erreichen – um die Hälfte mehr als herkömmliche AKWs. Dadurch muss für dieselbe Leistung weniger Uran verbraucht werden, vor allem wenn schnelle Neutronen verwendet werden. Allerdings sind hier die Materialanforderungen enorm, da zusätzlich zu den hohen Drucken und Temperaturen die ständige Neutronenstrahlung das Material ermüdet.

Im deutschen AKW Isar 2 erzeugt ein Druckwasserreaktor Strom. In einem Superkritischen Wasserreaktor würde das Kühlwasser noch stärker erhitzt und unter Druck gesetzt.
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Wann Superkritische Wasserreaktoren serienreif werden, ist wie bei anderen alternativen Reaktortypen unklar. Und genau das ist der springende Punkt: In der eskalierenden Klimakrise ist Zeit ein knapper Rohstoff. „Es werden seit 70 Jahren staatliche Mittel in die Erforschung alternativer Reaktoren gesteckt, bisher ohne überzeugende Ergebnisse“, sagt Frieß.

Alternative Reaktordesigns wären zwar ein Fortschritt gegenüber herkömmlichen Reaktoren. Doch angesichts der Entwicklungszeiträume ist es wahrscheinlich, dass sie von erneuerbaren Energieträgern überholt werden. Müllner rechnet mit serienreifen neuen Reaktortypen frühestens Mitte des Jahrhunderts, zu einer Zeit also, wenn Europa ohnehin längst klimaneutral sein muss. Für die Energiewende spielen alternative Reaktorkonzepte also keine Rolle.

Wiederaufbereitung und Endlagerung

Heute stehen uns weder die für ein flexibles Netz aus Erneuerbaren nötigen Speichertechnologien noch die fortschrittlichen Reaktortypen zur Verfügung. Der Klimakollaps schreitet indes ungebremst voran, und Russlands Krieg in der Ukraine verschärft die energiepolitische Lage zusätzlich.

In dieser Situation AKWs abzuschalten und Kohlekraftwerke wieder zu ertüchtigen wirkt kontraproduktiv – wäre da nicht der Atommüll. Dessen Lagerung sei ein ungelöstes Problem und mache den Einsatz von Kernkraft unmoralisch, sagen Gegnerinnen und Gegner. Doch hier scheinen wir mit Ideen aus der Steinzeit zu arbeiten: Wir verscharren unseren Mist im Boden.

Der Salzstock im deutschen Gorleben war lange als Endlager vorgesehen. Mittlerweile hat sich der Schacht als geologisch ungeeignet herausgestellt.
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Unmengen an Geld und jahrzehntelange Forschung fließen in geologische Endlager, die radioaktiven Atommüll für eine Million Jahre sicher verwahren sollen – länger, als es moderne Menschen auf Erden gibt. Dass dieser Ansatz unvorhersehbare Risiken bringt, liegt auf der Hand. Wäre es nicht besser, die langlebigen radioaktiven Kerne im Atommüll einfach zu zerstören? Genau das versprechen Beschleuniger-basierte Methoden.

Atommüll wegbeamen

Treffen Teilchen mit hoher Energie auf einen Atomkern, kann dieser regelrecht explodieren. Dabei entstehen zahlreiche Neutronen, die wiederum selbst Kernreaktionen auslösen können. Beschleuniger-basierte Reaktoren nutzen dieses Prinzip, um aus Atommüll Energie zu gewinnen. Die Anlagen werden mit hochradioaktivem, langlebigem Abfall beladen.

Ein Teilchenbeschleuniger erzeugt schnelle Protonen, die mit voller Wucht auf die Kerne des Atommülls treffen und sie zerstören. Die freigesetzten Neutronen spalten noch mehr der problematischen Atomkerne. Die dabei freiwerdende Wärme wird in Strom umgewandelt und soll den Beschleuniger betreiben, der die schnellen Teilchen liefert.

Linearbeschleuniger wie dieser erreichen Protonenenergien, die ausreichen, um langlebige radioaktive Kerne zu zerstören.
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Befürworter dieses Verfahrens versprechen, dass Atommüll nach dem Bestrahlen nur noch mehrere Hundert Jahre gelagert werden muss, bis die verbliebene Radioaktivität abgeklungen ist. "Bei der Bestrahlung entsteht aber zunächst mehr Radioaktivität, da manche Bruchstücke der langlebigen Kerne stärker strahlen. Einige dieser Produkte müssen ebenfalls endgelagert werden", sagt Frieß. "Außerdem ist die Umwandlung der problematischen Kerne zeitintensiv, wir reden hier schnell von hundert Jahren, in denen der Müll immer wieder bestrahlt werden muss."

Das Ende des Atomzeitalters

Pro Zyklus werden nämlich nur bis zu zehn Prozent der langlebigen Kerne vernichtet. Zusätzlich erfordern auch Beschleuniger-basierte Systeme eine aufwendige Wiederaufbereitung der Brennstoffe: Nur bestimmte Elemente eignen sich für den sicheren Betrieb solcher Anlagen. Störende Bestandteile des Atommülls müssen chemisch aussortiert werden. Dabei bleibt ein Rest hochradioaktiven Abfalls übrig, der erst recht endgelagert werden muss. "Dadurch schieben wir die Endlagerungsproblematik höchstens auf", sagt Frieß.

Castoren mit hochradioaktivem Abfall kommen per Zug aus der Wiederaufbereitungsanlage im britischen Sellafield nach Deutschland. Der Transport ist schwer bewacht.
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Nukleare Technologien wie alternative Reaktortypen oder Beschleuniger-basierte Systeme können Kernkraft nicht zukunftsfit machen. Das Trilemma, AKWs gleichzeitig nachhaltig, sicher und ökonomisch zu machen, konnte bisher nicht gelöst werden: "Wir sind an der Komplexität gescheitert", fasst Müllner die Lage zusammen. Angesichts des knappen Zeitplans der Klimakrise müssen heute verfügbare Technologien ausgereizt werden: Nur die bestehenden Reaktormodelle spielen in der Diskussion um die Kernkraft eine Rolle. Sie könnten als Brückentechnologie dienen.

Die Experten sind sich jedenfalls einig: Nach der Energiewende ist Kernkraft wohl obsolet. Das Atomzeitalter neigt sich seinem Ende zu – nukleare Technologien werden es nicht retten. (Dorian Schiffer, 14.8.2022)