Wer es sich leisten konnte, entfloh während der Lockdowns dem Leben in der Großstadt. Die Drehbuchautorin Lola Randl war bereits vor der Pandemie mit Mann, Kind und Kegel in die bei Berlinern beliebte Uckermark gezogen und berichtete in ihrem ersten Roman Der große Garten vom Leben der Großstädter auf dem Land. Nun legt die Autorin ein Büchlein mit furchterregendem Umschlag nach, auf dem uns mehrere Augen entgegenstarren. Kippt die Idylle?

Mit leisem Spott schildert Randl in Angsttier ein typisches Szenario: Romantische Vorstellungen vom Landleben veranlassen verwöhnte Kinder reicher Eltern, verfallene DDR-Häuser in reizvoller Gegend zu erwerben. Diese biederen Träume lässt Randl den erfolglosen Schriftsteller Jakob zelebrieren, der in unsicheren Verhältnissen mit einer alleinerziehenden alkoholkranken Mutter aufgewachsen ist. Die Passagen, in denen Randl die sinnlosen Tätigkeiten der aufs Land verpflanzten Stadtmenschen und ihre Illusionen vom besseren Leben als Kleinfamilie ironisiert, sind gut beobachtet und zu lesen. Jakobs Frau Friedel produziert vor allem PDFs, die an Institutionen geschickt werden, um Gelder zu requirieren, die es ihr ermöglichen, weitere PDFs zu erstellen, heißt es. Dann wird sie wie geplant schwanger.

Nicht korrekte Beobachtung

Neben dem überteuert erworbenen Haus wohnt eine verwahrloste Familie, deren Gepflogenheiten überhaupt nicht dem verfeinerten Geschmack des jungen Paars entsprechen: Übergewichtig, billig gekleidet, minderwertigen Alkohol trinkend, lungern sie auch tagsüber in Unterwäsche herum. Im überheblichen Blick der Wessis auf die Ossis erscheinen die Einheimischen als triebgesteuerte Grobiane. Dennoch fühlen sich die Städter von diesen anderen angezogen, üben sich in ethnologisch korrekter teilnehmender und manchmal nicht so korrekter Beobachtung.

Lola Randl, "Angsttier". € 18,– / 174 Seiten. Matthes & Seitz, 2022

Jakob beginnt zu zweifeln. Mit dem geplanten Roman kommt er nicht voran, er schläft nicht gut, treibt sich nachts draußen herum. Das Heimelige des konventionellen Lebens, das er als Kind selbst nie erfahren hat, wird ihm unheimlich. Ohnehin geht es in dem Kurzroman ziemlich freudianisch zu. Geld, unbefriedigte Gelüste, Verdrängtes lassen die harmonische Ausgangssituation immer mehr in Richtung sanfter Horror gleiten. Randl spielt eine Idee durch: Was geschähe, wenn man den Prozess der Zivilisation umkehrte, die Rückkehr zur Natur wörtlich nähme? Meist ist es ja so, dass zivilisierte Stadtmenschen sich die Natur aneignen, wobei alles bequem wie in der Stadt sein soll, aber halt mit frischer Luft und Ausblick. Tatsächliche Probleme des Landlebens sowie den Clash zwischen Eingesessenen und Zugezogenen geht Randl nicht wirklich an, anders als etwa Juli Zeh in ihren Romanen mit sozialpolitischem Anspruch plus Moral.

Nachdem Jakob nachts von einem unbenannten Tier gebissen wurde, beginnt er sich allmählich zu verändern. Seine Wunde will er nicht behandeln lassen, er versteckt sie vor Friedel. Die Verletzung symbolisiert seine sich entwickelnde Eigenständigkeit. Das Angsttier ermöglicht es Jakob, aus der Falle der drohenden Biederkeit auszubrechen und sich der finanziellen Abhängigkeit zu entledigen, die ihn an Friedel und deren Eltern binden.

Auch soziale Zwänge lässt er langsam hinter sich. Er gibt sich seinen Trieben hin. Seine Angst wandelt sich in Wut, in Zerstörungswahn und Aggressionen; er beginnt zu halluzinieren. Die "Natur" dringt jetzt direkt in sein Gehirn. Was genau diese Veränderung bewirkt und wie alles endet, sei hier nicht verraten, sondern es sei an den Kultfilm Themroc erinnert, in dem Michel Piccoli aus Frust eines Tages anfängt, mit dem Vorschlaghammer seine Wohnung zu demolieren, sich seiner Kleidung zu entledigen, dabei nur Tiergeräusche von sich zu geben. Ganz so weit treibt Randl diese Fallstudie mit Humor aber nicht. Doch Nacktschnecken spielen eine nicht unwichtige Rolle. (Sabine Scholl, 17.7.2022)