Es ist ein Erlebnis, das stets in ähnlichen Bahnen verläuft. Kaum hat man, ob nun auf einer Urlaubs-, Geschäfts- oder Reise aus sonstigen Gründen, die Grenze hinter sich gelassen, beginnt man die Entfernung von jenem Fluidum zu spüren, das einen Staat, ein Land, seine Traditionen und seine Umgangsformen ausmacht. Oder, wenn man es gemütvoller bezeichnet haben möchte, "die Heimat". Man merkt, dass man in ein anderes Fluidum eintaucht. Man spürt den Wechsel im Guten wie im Schlechten.

Meist vermittelt die Distanz vom Gewohnten, von dem, was einen tagaus, tagein in seinen Fängen hält, Wohltat und Erleichterung, daher ja auch das immense Geschäft der Tourismusindustrie, die die Fluchtwilligen (und Zahlungsfähigen) aus aller Herren und Damen Länder gerne unter ihre Fittiche nimmt. "Am erträglichsten ist es immer im Ausland", lautet ein wunderbarer, schwer auszulotender Satz von Walter Serner, dem 1942 in der Nähe von Riga gemeinsam mit seiner Frau ermordeten dadaistischen Dichter. Der Satz trägt dem Umstand Rechnung, dass einem ein Inland immer zusetzt.

Gruppenbild mit Damen: Auch beim GTI-Treffen in Reifnitz (Wörthersee) war eine Männlichkeit der grindigeren Art am Werk.
Foto: APA / Reiner Riedler

Selbstverständlich setzt einem auch und gerade das österreichische Inland zu. Selbst dann, wenn man sich, wie der Autor dieser Zeilen, temporär auf Urlaub im Ausland befindet und die News aus der Heimat aufgrund der geografischen Distanz gewissermaßen nur im abgepufferten Zustand geliefert bekommt. Aber auch in der Ferne stellen sich zuverlässig die Haare auf. Über das Internet erfährt man von Begebenheiten in der Heimat, die glasklar beweisen, dass Austro-Grant, schlechte Witze und nationales Ungustltum auch im Sommer keine Minute Auszeit nehmen. Der Bundeskanzler tischt einen Alkohol-und-Psychopharmaka-Schmäh auf, der, recht österreichisch, von manchen als politische Generalabsolution für alle Bsuff verstanden wird. In Spielberg bekommen es Besucherinnen mit biergetränkten Manifestationen von "Männlichkeit" der grindigsten Sorte zu tun (na gut, ein paar ausländische "Gentlemen" haben vor Ort ebenfalls kräftig mitgewirkt). Und das Netzwerk "Internations" lässt mit einer Umfrage aufhorchen, wonach sich in Österreich lebende Expats mit einer Unfreundlichkeit geradezu galaktischen Ausmaßes konfrontiert sehen.

Faule Schmähs

Räudige Umgangsformen, faule Schmähs, übertriebenes Fremdeln: Da kommt einiges zusammen und fügt sich zu einem imposanten intersektionalen Potpourri von Austro-Defiziten. Kein Wunder, dass aufs Zuspitzen spezialisierte Menschen der Feder nicht zimperlich mit dem Land umgingen. Für Karl Kraus war es die "Versuchsstation für den Weltuntergang", Peter Handke nannte Österreich "das Fette, an dem ich würge" (und übersiedelte nach Frankreich). Elfriede Jelinek schrieb den schönen Satz: "Die Steiermark hasse ich am allerwenigsten."

Thomas Bernhard wiederum könnte man kaum ankreiden, dass er sich den Titel eines Beschimpfungskünstlers zu Unrecht erworben habe, und obwohl er auch ausländische Objekte (deutsche Kleinstädte) keineswegs verschmähte, gilt doch der Löwenanteil seines Beschimpfungselans dem österreichischen Inland. All die Genannten waren noch weit intensiver von den Auswirkungen der Nazi-Katastrophe betroffen als die österreichische Gegenwartsgesellschaft mit ihren weitreichenden demografischen Veränderungen. Aber als untergründiges Reservoir, das bei passender Gelegenheit schnell reaktiviert werden könnte, lebt das Ewiggestrige fort, gerne auch im Rang eines Vizekanzlers oder Ministers. All das kontrastiert eigentümlich mit der außerordentlichen Lebensqualität, die Österreich in anderen Umfragen regelmäßig bescheinigt wird (hurra, Wien nach einem Jahr Pause wieder auf Platz eins im Economist-Ranking der lebenswertesten Städte!).

Fragen tun sich auf. Sind wir so? Und wenn wir so sind, warum sind wir so? Wie stehen wir mit unseren Schwächen im internationalen Vergleich da? Der Blick aufs Ausland kann trösten. Ärger, Stunk, schlechtes Benehmen und Frustrationen ob politischer Fehlleistungen gibt es auch anderswo zuhauf, das sind keine österreichischen Alleinstellungsmerkmale. In Frankreich mault das Volk derzeit zwar nicht über bochene Schmähs der Spitzenpolitik, wohl aber darüber, dass sich Emmanuel Macron als Quasi-Lobbyist für Uber betätigt hat. Eine rechtsextreme Partei gibt’s im Hexagon natürlich auch.

In den USA hat Donald Trump in seiner politischen Laufbahn nicht nur mehr (und folgenschwereren) verbalen Müll von sich gegeben als Nehammer, Kurz, Kickl, Strache und Thomas Schmid zusammen, er hat auch beherzt an einem Coup gearbeitet, um im Amt zu bleiben. Selbstredend kann ihm auch in Sachen Misogynie niemand etwas vormachen, ein Platz in Spielberg wäre hochverdient.

Die Existenz von Defiziten anderswo kann kein Freibrief für ein Gemeinwesen sein, die Zügel schleifen zu lassen, schon gar nicht in einer Zeit, da sich Anzeichen kollektiver Regression und Verlotterung häufen. Die Pandemie war diesbezüglich nicht hilfreich, und die zu erwartenden Auswirkungen von Inflation und Ukraine-Krieg werden es ebenso wenig sein. Sollte Herr Putin sich dazu entschließen, Österreich den Gashahn zuzudrehen, muss sich das Land auf wilde und unabsehbare Konsequenzen einstellen.

Erwin Ringel, der 1994 verstorbene Psychiater der Nation, hat in seinem Klassiker Die österreichische Seele (1984) bemerkt, dass sich die Österreicher in auffälliger Weise mit positiven Emotionen wie Freude oder Zuwendung schwertun (von denen spürt man zum Beispiel in den romanischen Ländern viel mehr). Hierzulande steht eher der Grant mit seinem giftigen Zutatenmix (Ressentiment, Selbstmitleid, Fremdbezichtigung, Kommunikationsverweigerung) im Vordergrund.

Ungeheuchelte positive Emotionen würden dringend gebraucht, um eine sich verschärfende Krisenzeit sinnvoll zu bewältigen. Ein paar Bier- oder Weinräusche bescheren zwar willkommene Kurzurlaube vom Ich, zur langfristigen Problemlösung eignen sie sich nicht. Darf man hoffen, dass die Politik mit der Gefahr wachsen und konstruktiv einspringen wird? Hm. In seinem (mit leisen ironischen Untertönen vorgebrachten) Bestreben, die österreichische Selbstachtung zu heben (wir sind nicht so wie H.-C. Strache!), steht der väterlich agierende Staatspräsident ziemlich allein da auf weiter Flur.

Endloses Mauern

Wie wohltuend wäre es, wenn man im professionellen Politsprech einmal ein paar Worte ehrlichen Bedauerns über die Myriaden von Fehlentscheidungen und Versäumnissen der letzten Jahrzehnte (Umweltpolitik, Energieabhängigkeit etc.) vernähme! Nichts da. Es wird gemauert (und bodenversiegelt), was das Zeug hält. Unrechtsbewusstsein, was für ein Unrechtsbewusstsein? Die Schere zwischen hohlem Wertegeschwafel und skandalöser politischer Praxis bleibt weit offen. Dass ein Freispruch vor Gericht der größte politische Erfolg ist, den Regierthabende für sich verbuchen können, ist ein Armutszeugnis.

Es darf ein bisserl mehr sein, es wäre an der Zeit. Gemütlicher wird es jetzt länger nicht mehr. (Christoph Winder, 17.7.2022)