Nun wandelt der Bundeskanzler des Öfteren auf Irrwegen der Rhetorik, etwa wenn es um Viren geht, um die man sich nicht mehr kümmern muss. Er wurde offenbar zu viel geschult.

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Meistens läuft es für Bundeskanzler Nehammer gut. Sagt er öffentlich etwas, tritt nach ihm ÖVP-Generalsekretärin Sachslehner auf den Plan und macht alles schlimmer. Damit lenkt sie die Pfeile öffentlichen Unmuts auf sich und dient ihrem Obmann so, wie es sich in ihrer Funktion eben schickt. Nach Nehammers letztem Auftritt vor seinen Tiroler Parteifreunden ist sie zum ersten Mal an der Größe der Aufgabe gescheitert. Um das zu verstehen, muss man Nehammers Bonmot in einen welthistorischen Zusammenhang sehen. Wie wäre der Zweite Weltkrieg ausgegangen, hätte Winston Churchill in kritischer Situation seinen Landsleuten zugerufen: Ich kann euch nichts versprechen als Alkohol oder Psychopharmaka!?

Umgekehrt wäre es als Ausdruck großer Ehrlichkeit angekommen, hätte Nehammer seinen vom Rücktritt Platters zweifellos verstörten Freunden zugerufen: Wenn wir jetzt so weitermachen, gibt es für euch nur vier Entscheidungen: Blut, Schweiß, Dreck und Tränen. Frau Sachslehner hätte – was sie nicht getan hat – beschwichtigend einwenden können, Ehrlichkeit könne man auch zu weit treiben. Aber Nehammers Ruf als Politiker der ungeschminkten Wahrheit wäre ins Unermessliche gestiegen.

Er wurde offenbar zu viel geschult

Nun wandelt der Bundeskanzler des Öfteren auf Irrwegen der Rhetorik, etwa wenn es um Viren geht, um die man sich nicht mehr kümmern muss. Er wurde offenbar zu viel geschult. Wirklich peinlich war aber eine geheimnisvoll nur mit IM gezeichnete Enthüllung in der Kronen Zeitung am Montag nach dem Tiroler Auftritt. Es ist schon wieder passiert, hieß es da unter dem Titel Verunglückter Scherz. Den nun kritisierten Sager habe er schon im April beim NÖ-Landesparteitag auf der Bühne gesagt. Damals gab es keine Aufregung.

Ob niederösterreichische Funktionäre der ÖVP einfach abgestumpfter sind als tirolerische und weniger imstande, den rhetorischen Finessen ihres Obmanns Aufregendes abzugewinnen, müsste eine parteiinterne Untersuchung klären. Nur schwer erträglich wäre die Vorstellung, unser Bundeskanzler arbeite sich mit ein und demselben Scherzkeks durch die türkisen Landesparteitage, ohne auf die feinen Charakterunterschiede seiner Gesinnungsfreunde einzugehen. Sie alle über denselben Leisten von Alkohol oder Psychopharmaka zu schlagen, wäre eine Verhöhnung des föderalistischen Prinzips.

Bei Heinrich von Kleist nachlesen

Da war beruhigend, was der Enthüller in der "Krone" noch berichtete. Aus dem Umfeld von Nehammer hört man, dass der Kanzler differenziere, ob er vor Parteifunktionären rede oder offiziell als Kanzler. Wenigstens das! Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte er Putin für korrekte Gaslieferungen vor die Wahl zwischen Alkohol oder Psychopharmaka gestellt. Der hätte sich wohl gepflanzt gefühlt.

Wenn Nehammer wirklich je nach Publikum differenziert, sollte man ihm Heinrich von Kleists Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" ans Herz legen. Dort heißt es: Wenn daher eine Vorstellung verworren ausgedrückt wird, so folgt der Schluss noch gar nicht, dass sie auch verworren gedacht sei; vielmehr könnte es leicht sein, dass die verworrenst ausgedrückten gerade am deutlichsten gedacht werden. Zum Beispiel der Gedanke: Und ich sag, Alkohol ist grundsätzlich okay. Und wenn der nicht hilft, findet man immer Trost bei den Klassikern.

Ein echter Dichter kuratiert

Leserinnen und Leser des STANDARD werden dem Album vom letzten Wochenende begeistert entnommen haben, dass künftig ein echter Dichter, der Lyriker Timo Brandt, die Gedichtauswahl dortselbst kuratiert. Das ist höchst wünschenswert, hätte doch selbst Goethe als Lyriker einen besseren Ruf, wären seine Ergüsse professionell kuratiert worden.

Gedichte in Tageszeitungen sind nichts Neues. Die "Presse" macht das, die "Krone" hielt sich lange einen Hausdichter, dessen Werke noch der alte Dichand kuratierte, was man ihnen anmerkte. Gedichte einiger regelmäßig von Erato geküsster "Krone"-Leser wirken weniger kuratiert, bei Dichand junior scheint es an lyrischem Interesse zu mangeln. Die Musensöhne Fellner zögern noch.

Der Kurator des STANDARD etablierte sich vorsichtshalber auch als Musenbremse. Ich muss allerdings darum bitten, nur wenige Texte einzusenden und auf eine Antwort zu warten, bevor man erneut einsendet. Das ist nur im Interesse der dichtenden Leserinnen und Leser. Wer will schon enden wie Goethe? (Günter Traxler, 16.7.2022)