Zumindest auf Walter Rosenkranz können sich so gut wie alle einigen – innerhalb der FPÖ. Fast jeder in der Partei war von der Nominierung des niederösterreichischen FPÖ-Urgesteins zum blauen Präsidentschaftskandidaten überrascht, positiv überrascht.

Andreas Mölzer, der als führender freiheitlicher Ideologe gilt, spricht nur in den höchsten Tönen vom neuen blauen Hofburg-Nominee: Volksanwalt Rosenkranz sei zwar wieder ein alter, weißer Mann, sagt Mölzer und meint es lustig, aber eben auch ein ruhiger, besonnener Parteiprofi, ein kultivierter Jurist, der dennoch die harte Linie Kickls in Sachen Corona und Migration mittrage. Rosenkranz, das sei der "Norbert Hofer mit Doktorat". "Die FPÖ stößt voll in die Lücke, die die Kanzlerpartei ÖVP durch ihre Nichtkandidatur offen lässt." Parteichef Herbert Kickl habe hier strategisches Geschick bewiesen.

In anderen Angelegenheiten schreiben nicht mehr alle Kickl diese Fähigkeit zu. Er ist als FPÖ-Chef grundsätzlich unumstritten. Unzufrieden sind aber einige Freiheitliche, auch wenn sich dazu kaum jemand offen bekennt. Die Volkspartei steht in vielen Umfragen so schlecht da wie seit vielen Jahren nicht mehr. "Und wir?", sagt ein ehemaliger blauer Stratege, "wir müssten doch abheben." Bei rund 20 Prozent liegt die FPÖ in aktuellen Umfragen. "Aber mit unserem aktuellen Kurs unter Kickl wird da auch nicht viel mehr drinnen sein."

Die Freiheitlichen setzen bei der Präsidentschaftswahl auf Arbeitsteilung: FPÖ-Chef Herbert Kickl soll für die gewohnt harten Parolen sorgen, Walter Rosenkranz den bürgerlichen Kandidaten verkörpern.
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Wenn vom "Kurs Kickls" gesprochen wird, ist meist seine Linie in Corona-Fragen gemeint. Besonders die Wiener Blauen gelten als Opponenten des Parteichefs. "Manche Aussagen aus dem Bund verstehe ich nicht", kritisierte öffentlich vor einigen Monaten Wolfgang Seidl, der blaue Gesundheitssprecher im Rathaus. Er fügte an: "Unsere Wiener Linie setzt auf wissenschaftliche Fakten." FPÖ-Wien-Chef Dominik Nepp ist in Interviews zurückhaltender: "Ich bin nie völlig zufrieden. Das wäre langweilig", erklärte er im Kurier auf die Frage, ob er mit der Corona-Linie der Bundespartei immer einverstanden sei.

Der Sirup aus Oberösterreich

Hinter vorgehaltener Hand fällt die Kritik deutlich schärfer aus: "Aktuell bedienen wir den Narrensaum", sagt ein Freiheitlicher aus einem anderen Bundesland. "Wir schaffen es weder, neue Wähler zu mobilisieren, noch positionieren wir uns so, dass irgendjemand mit uns koalieren würde."

Aus dem oberösterreichischen Parteiumfeld hört man wiederum: Die Landesgruppe von Manfred Haimbuchner habe sich ob des zerrütteten Verhältnisses zu Kickl "eingeigelt" und warte ab. "Der freiheitliche Sirup ist in Oberösterreich, sobald es irgendwann wieder klares Wasser gibt, gießen wir auf."

Kickl, und das sagen selbst jene, die ihn schätzen, agiere ziemlich isoliert. Er berate sich nur mit einem kleinen Zirkel – bestehend aus wenigen Funktionären und ein paar Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die ihn seit seiner Zeit als Innenminister begleiten. Auch mit der niederösterreichischen Landespartei, deren Wahlliste er 2019 anführte, halte er regen Kontakt. Ansonsten sei Einbindung rar.

Besonders im burschenschaftlichen Milieu finden sich einige, denen Kickls Politik zu ruppig, zu einfach, zu proletenhaft ist.

Wobei umgekehrt auch Kickl den Burschenschaftern skeptisch gegenüberstehen soll – auch wenn er mit einigen wenigen der Kooperierten zusammenarbeitet. Nicht zuletzt ist Rosenkranz Mitglied einer hart rechten Verbindung.

Kickl gilt als misstrauischer Chef. Das hatte sich etwa Dienstagabend gezeigt. Als er das blaue Führungsgremium zusammenrief, um den Präsidentschaftskandidaten zu präsentieren, rechneten mehrere blaue Spitzenpolitiker noch damit, Susanne Fürst werde wohl antreten. Im Vorfeld waren nur wenige informiert worden, dass sich der Parteichef für Rosenkranz entschieden hatte – nicht einmal Norbert Hofer, Präsidentschaftskandidat von 2016 und Dritter Nationalratspräsident, wusste Bescheid, wie es heißt. Zwischen Kickl und Hofer herrsche aber ohnehin "sehr dicke Luft", wie es ein Blauer formuliert.

Könnte Kickl gar bald gestürzt werden? "Nein, sicher nicht", erklärt selbst ein Kritiker des blauen Parteichefs. "Im Grunde geht es uns jetzt wie der SPÖ. Viele murren über die Parteispitze, aber eigentlich fällt zu Kickl derzeit niemandem eine Alternative ein."

Es gibt natürlich auch eine gänzlich andere blaue Erzählart der jüngsten freiheitlichen Geschichte: eine Kickl-freundliche. Laut der habe er die FPÖ nach der Ibiza-Affäre in den Umfragen jedenfalls wieder konsolidiert. Bei der vergangenen Nationalratswahl 2019 kam die FPÖ schließlich gerade noch auf 16,2 Prozent. Nicht zuletzt sei der Zuwachs in der Sonntagsfrage durch Kickls strammen Kurs gegen die Corona-Maßnahmen der türkis-grünen Bundesregierung gelungen, sind seine Anhänger überzeugt. Da habe die Partei wieder ein eigenes Profil entwickelt.

Oppositionelles Unwohlsein

Und tatsächlich stehen die Freiheitlichen heute deutlich besser da als nach der Implosion der türkis-blauen Koalition mit Altkanzler Sebastian Kurz und dem damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache. In der jüngsten Sonntagsfrage von Puls 24 hat die FPÖ gar die kriselnde ÖVP überholt – und steht mit 21 Prozent auf Platz zwei hinter den Sozialdemokraten. Könnte es also bald wieder richtig bergauf gehen unter Kickl – was Kritiker meist prompt verstummen lässt?

Jedenfalls ist bei manchen roten und pinken Abgeordneten ein gewisses Unwohlsein spürbar. Begründet wird es einerseits durch die multiplen Krisen: die Corona-Pandemie, ein drohender Gasexodus aus Russland und eine immer weiter in die höhe schnelle Preissteigerung – alle Problemfelder könnten sich im Herbst weiter zuspitzen.

Auf der anderen Seite der Krisenanalyse stehen ÖVP und Grüne: eine Koalition, zerfressen von türkisen Affären und Ermittlungen – ohne gemeinsame Mehrheit im Land. Es ist eine Regierungskonstellation, die stetig an Vertrauen einbüßt. Selbst die bisherigen milliardenschweren Ankündigungen gegen die Teuerung drohen in der gesamtösterreichischen Stimmungslage zu verpuffen.

Ein Wunschtraum als Schlachtruf

Von dieser emotionalen Mischung aus Ärger über die Regierung und blanker Unsicherheit der Bevölkerung könnten vor allem die Freiheitlichen profitieren, fürchten deren Mitbewerber. Die Präsidentschaftswahl mit Rosenkranz soll zum Testlauf und Stimmungsbarometer für die kommenden Monate werden.

Die FPÖ drückt schon die Nostalgietaste. Der Schlachtruf lautet: "Holen wir uns unser Österreich zurück", was sich in Krisenjahren eher nach einem Wunschtraum anhört. Doch der passionierte Sozialpolitiker Herbert Kickl tritt mit gewohnt scharfer Rhetorik auf den Plan. Er spricht hinsichtlich der Teuerung von einem "Vernichtungsprogramm" des Wohlstands. Er lehnt die Wirtschaftssanktionen gegen Russland ab, die beim Einkauf und an der Tankstelle für Millionen Menschen spürbar würden. Kickl sieht sich und Rosenkranz als Vertreter jener, die "bestohlen, unterdrückt, entrechtet und belogen" worden seien.

Rosenkranz soll nun den bürgerlichen Rechten verkörpern, den Kickl nicht glaubwürdig darstellen kann. Gleichzeitig neigt er selbst zu harten Parolen: Er kokettiert offen mit einem EU-Austritt, sollte etwa die Ukraine Teil "dieser Familie" werden. Der blaue Kandidat sagte auch bereits, dass er der Bundesregierung eine Sanktionspolitik wie gegenwärtig "niemals durchgehen lassen würde". Dabei betont er auf Nachfrage, dass ein Bundespräsident eine Regierung oder den Nationalrat "als letzte Konsequenz" auch entlassen könne. Letzteres ist allerdings nur auf Vorschlag der Regierung möglich.

Strache weiß noch nicht, wo er sein Kreuzerl macht

Die Entscheidung für Rosenkranz als FPÖ-Kandidaten soll sich intern schon länger abgezeichnet haben. "Seit Ende Juni hat sich seine Kandidatur eigentlich schon herauskristallisiert", sagt ein Blauer. Warum die Kür dann doch erst vor wenigen Tagen stattfand, begründet der Blaue mit der Sorgfalt des Obmanns: "Kickl hat analysiert, abgewogen und geprüft, bevor er der Parteispitze seinen Vorschlag präsentiert hat." Es wäre falsch gewesen, sich drängen zu lassen.

Ein Grund für die langsame Entscheidung waren auch Verhandlungen mit Tassilo Wallentin. Der ideologisch ähnlich tickende Wiener Rechtsanwalt und Kolumnist der Krone sei selbst auf die FPÖ zugekommen, heißt es. Aber er wollte offenbar Kickls Corona-Kurs nicht voll mittragen. Nun denkt Wallentin über eine eigene Kandidatur nach.

Selbst der ehemalige FPÖ-Chef Strache weiß noch nicht, wen er bei der Präsidentschaftswahl am 9. Oktober wählen werde, wie er sagt. Rosenkranz hält er – wie fast alle – für eine "ernst zu nehmende" Wahl. Aber Strache will sich erst noch die anderen Kandidaten aus dem rechten Lager anschauen, bevor er sich entscheidet, wo er sein Kreuzerl macht. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, Oliver Das Gupta, 16.7.2022)