Das Gelbe Trikot vor Augen, die schwer geschlagene Konkurrenz schon längst distanziert: Jan Ullrich am 15. Juli 1997 auf dem Weg hinauf nach Andorra Arcalis.

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2017 ließ sich Jan Ullrich an der Stätte seines Triumphes blicken.

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Ein letzter Blick zurück zu seinem schnaufenden Kapitän, dann geht der junge Mann im deutschen Meistertrikot aus dem Sattel – nur ganz kurz – und beschleunigt mit einigen kräftigen Tritten. Er zieht einfach davon, um Geschichte zu schreiben. "Jan Ullrich erstürmt Andorra Arcalis", hieß es an diesem 15. Juli 1997 nach der zehnten Etappe der 84. Tour de France. Vor 25 Jahren hatte sich ein 23-jähriger Rostocker auf den letzten zehn von 252,2 Kilometern einer wahren Monsteretappe von Luchon in die andorranischen Pyrenäen aufgemacht, ein Superstar des deutschen Sports zu werden – auf einer Popularitätsstufe mit Boris Becker oder Michael Schumacher.

Dass Ullrich ein ganz Großer wird, war schon in den Jahren davor abzusehen. 1996, bei seinem Debüt, hatte der Amateurweltmeister von 1993 als treuer Diener von Bjarne Riis geholfen, die Herrschaft des Spaniers Miguel Indurain über die Tour zu beenden. Sein Sieg im abschließenden Einzelzeitfahren war für Riis ein Menetekel. Die Hierarchie im deutschen Team Telekom geriet ins Wanken. Den Umsturz wollte der knorrige Däne am 15. Juli 1997 selbst eingeleitet haben. Mit den Worten "wenn du dich stark genug fühlst, fahr los" habe er seinem Adjutanten grünes Licht gegeben. Glaubhafter ist die Intervention Walter Godefroots, des mächtigen Sportchefs von Telekom, der Riis’ Chancen in der elfköpfigen Spitzengruppe mit Kletterstars wie Marco Pantani, Richard Virenque und Laurent Dufaux kühl abwog und dann Ullrich angeblich mit den legendären Worten von der Leine ließ: "Der König ist tot. Schauen Sie sich nicht um und geben Sie alles."

Das Meisterstück

Ullrich tat, wie ihm geheißen, kletterte ins Gelbe Trikot und lieferte nur drei Tage später im 55 Kilometer langen Zeitfahren zu Saint-Étienne sein Meisterstück, indem er als Tagessieger seinem Verfolger Virenque und Ex-Kapitän Riis mehr als drei Minuten abnahm. Ullrich erreichte die Avenue des Champs Élysées in Paris schließlich mit einem Vorsprung von 9:09 Minuten auf Virenque. Nicht einmal Lance Armstrong, mit dem sich Ullrich später über Jahre duellierte, hatte je einen solchen Abstand auf den Zweiten.

Sportlich sollte es nie wieder so gut wie in jenem Sommer 1997 laufen. Anstatt, wie ihm zahlreiche Experten prophezeiten, mehrfach die Tour zu gewinnen, scheiterte Ullrich immer wieder an sich selbst und am Dauerrivalen Armstrong.

Bei der Tour 1998, nach den Erkenntnissen der Anti-Doping-Kommission des französischen Senats ebenso wie der spätere Sieger Marco Pantani durch Epo gestärkt, erlebte Ullrich seine sportlich schwärzeste Stunde bei der Etappe nach Les Deux Alpes, in der der Titelverteidiger trotz der aufopferungsvollen Hilfe der Teamkollegen Udo Bölts und Georg Totschnig fast neun Minuten auf und das Gelbe Trikot an Pantani, den Radpiraten aus Cesenatico, verlor.

In den folgenden Jahren begann "Ulles" Kampf gegen Bequemlichkeit und Winterspeck. Die Pannen häuften sich. 2002 musste er sich zweimal am Knie operieren lassen, unter Alkoholeinfluss verursachte er einen Unfall und beging Fahrerflucht. Während der Reha wurde er positiv auf Amphetamine getestet und flog bei Telekom raus.

Im Strudel

Im Jahr danach im Team Bianchi hatte Ullrich Armstrong so nah wie nie an einer Niederlage. 2006 wollte er zum letzten großen Schlag ausholen, den der Ausbruch der Affäre um den spanischen Arzt Eufemiano Fuentes verhinderte. Die Karriere war vorbei, Ullrich geriet immer mehr in eine Abwärtsspirale und in einen Strudel gerichtlicher Auseinandersetzungen.

Die, die ihn rechtlich vertraten, "sind die größten Gauner, die haben ihn in die Lügen reingeritten", sagte selbst Anti-Doping-Kämpfer Werner Franke, einer der härtesten Ankläger des gefallenen Helden. Dem setzten immer stärker psychische Probleme zu. Erst ein Klinikaufenthalt habe "den Knoten im Kopf" gelöst. Ohne seine Familie wäre er verloren gewesen, sagt Ullrich. Der Bruch mit der Realität hat sich bis heute nicht eingerenkt.

Auch wenn die Umstände des Triumphs längst als wenig heroisch entlarvt scheinen, blieb der Toursieg 1997 für Ullrich das prägende Erlebnis seiner Laufbahn. "Ich bin immer noch stolz darauf", sagte er in der Vergangenheit schon mehrfach. 2017, zum 20. Jahrestag, ließ er die Erinnerung gemeinsam mit einigen zahlungskräftigen Fans, die dafür jeweils 1200 Euro investierten, neu aufleben.

Ullrich genoss seine "Jubiläumsfahrt" hinauf nach Andorra Arcalis, wo er am 15. Juli 1997 noch etwas schüchtern vom Podest herabgeblickt hatte – das rothaarige, sommersprossige Wunder mit der goldenen Creole im linken Ohrläppchen. "Ich freue mich, dass ich jetzt das Gelbe habe, aber im Moment begreift man das erst mal gar nicht", sagte er damals. (sid, red, 16.7.2022)