Die Stunde der Wahrheit schlägt am Mittwoch: Dann wird Mario Draghi, wie von Staatspräsident Sergio Mattarella gewünscht, im italienischen Parlament darlegen, was ihn zu seinem Rücktritt bewogen hat. Bei der Gelegenheit könnte der Noch-Premier aber auch ein neues Regierungsprogramm vorlegen, dieses in einer Vertrauensabstimmung absegnen lassen und dann – mit der alten oder mit einer neuen Koalition – doch noch bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühling 2023 weiterregieren.

Im Februar 2021 musste Giuseppe Conte (vorn) als Regierungschef für Mario Draghi Platz machen.

Das wäre das Wunschszenario des Staatspräsidenten, der Draghis Rücktrittsangebot am Donnerstagabend nicht angenommen hat; es wäre auch die ideale Lösung aus Sicht der EU-Kommission, die die Regierungskrise in Italien "mit besorgtem Erstaunen" zur Kenntnis genommen hat, wie sich EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni ausdrückte.

Am Freitag dann war man sich im politisch verkaterten Rom ziemlich einig, dass wenig Aussicht darauf besteht, dass Draghi seine Meinung ändern wird. Er habe die Schnauze voll, hatte der vornehme Premier sinngemäß schon vor der Vertrauensabstimmung gesagt, die dann tatsächlich von der mitregierenden Fünf-Sterne-Bewegung boykottiert wurde.

Weitermachen ...

Genug hat Draghi insbesondere von Ex-Premier Giuseppe Conte, dem Anführer der Bewegung. Dieser stellt Draghi seit Wochen Ultimaten, zieht Beschlüsse in Zweifel, rückt von der Linie der Regierung ab. Und am Donnerstag schreckte er nicht einmal davor zurück, wegen einer eigentlich guten Sache – einer geplanten Müllverbrennungsanlage in Rom – sogar eine Regierungskrise loszutreten.

In Rom kann bis zu Draghis Auftritt im Parlament am Mittwoch noch viel passieren. Aber dass sich Draghi mit seinem Amtsvorgänger Conte, dessen Namen er nicht mehr in den Mund nimmt, noch einmal ins gleiche Regierungsboot setzen wird, das gilt als nahezu ausgeschlossen. Nicht zuletzt, weil Conte bereits klargemacht hat, dass er auch bei einer Neuauflage der Regierung auf einem "grundlegenden Kurswechsel" bestehen würde. Dabei wird er vom Kabarettisten Beppe Grillo, dem Gründer und Guru der Fünf Sterne, ausdrücklich unterstützt. Es würde also im gleichen Trott weitergehen.

... oder wählen lassen?

Rein theoretisch wäre auch die Bildung einer neuen Regierung ohne "Grillini" denkbar – aber dies hat Draghi beizeiten ausgeschlossen: "Mit mir wird es keine andere Regierung geben", hatte der Premier versichert.

Bleibt Draghi bei seiner Rücktrittsentscheidung, hätte Staatspräsident Mattarella zwei Möglichkeiten: Er könnte umgehend das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen. Diese würden Ende September oder Anfang Oktober stattfinden, da zwischen der Auflösung der beiden Kammern und der Neuwahl nicht mehr als 60 Tage verstreichen dürfen. Mattarella könnte aber auch einen parteiunabhängigen Technokraten als neuen Regierungschef einsetzen, der mit dem alten Parlament den Staatshaushalt ausarbeitet, die anderen unaufschiebbaren Regierungsgeschäfte erledigt und das Land zu den regulären Neuwahlen im kommenden Frühling führt. Im Gespräch für diesen Interimsjob sind der ehemalige Regierungschef und Verfassungsgerichtspräsident Giuliano Amato sowie Finanzminister Daniele Franco.

Italien geht jedenfalls schwierigen Zeiten entgegen – und der Hauptverantwortliche für das politische Schlamassel ist in jedem Fall Giuseppe Conte, der vom einstigen Hoffnungsträger der Fünf-Sterne-Bewegung zu ihrem Totengräber und zur tragischen Figur zu werden droht.

Conte: Vom Superstar ...

Der parteilose, damals völlig unbekannte Jurist mit geschöntem Curriculum war im Mai 2018 quasi aus dem Nichts Ministerpräsident einer Regierung geworden, die aus der rechten Lega von Matteo Salvini und Beppe Grillos Bewegung geformt wurde. Als moderater Premier einer eigentlich sehr europafeindlichen Regierung verstand er es, in Brüssel die Ängste vor einem Euro-Austritt Italiens halbwegs zu zerstreuen.

In seiner zweiten Regierung – dann mit dem sozialdemokratischen PD – war Conte mit der Corona-Pandemie konfrontiert, die er mit einer gelungenen Mischung aus harten Lockdowns und menschlicher Anteilnahme bewältigte. Dies bescherte ihm in der Bevölkerung eine große Popularität.

Doch dann kam der Bruch, auch auf psychologischer Ebene: Im Februar 2021 wurde Conte von einem Koalitionspartner, Ex-Premier Matteo Renzi, gestürzt; Staatspräsident Mattarella setzte in der Folge Mario Draghi ein. Conte hat seine Entfernung aus dem Palazzo Chigi, dem Regierungssitz, nie verwunden. Die Fünf-Sterne-Bewegung, zu deren Anführer der Ex-Premier wurde, setzte Verschwörungstheorien in Umlauf: Draghi habe beim Sturz Contes heimlich Regie geführt. Zwar trat man Draghis "Regierung der nationalen Einheit" bei und besetzte diverse Ministerposten; doch Conte ließ keine Gelegenheit aus, seinem Nachfolger Prügel vor die Füße zu werfen.

Was war echtes politisches Anliegen, was Trotzreaktion aus verletzter Eitelkeit? Schwer abzuschätzen. Der von Conte willentlich provozierte Rücktritt Draghis weist jedenfalls eindeutige Züge einer persönlichen Vendetta, eines Rachefeldzugs, auf.

Letztlich hat sich Conte aber ins politische Abseits manövriert: Er und seine Truppe werden für den Sturz des beliebten und angesehenen Draghi verantwortlich gemacht, und sie haben im Hinblick auf Neuwahlen wohl ihren einzigen Verbündeten, den PD, verloren. Nach dem Eklat vom Donnerstag reift bei den Sozialdemokraten die Einsicht, dass es einem politischen Selbstmord gleichkäme, sich mit den notorisch unzuverlässigen Grillini ins Lotterbett zu legen. Wegen des Wahlgesetzes, das die Parteien zu Wahlbündnissen zwingt, gehen Contes Leute also einer weiteren, sicheren Niederlage entgegen – und die Rechtsparteien von Silvio Berlusconi, Matteo Salvini und Giorgia Meloni einem fast sicheren Sieg.

... zum Loser

2018 waren die Fünf Sterne mit 31 Prozent stärkste Partei geworden und mit über 300 Parlamentariern ins Abgeordnetenhaus und in den Senat eingezogen. Mittlerweile liegen sie in den Umfragen bei zwölf Prozent, die ihnen ein paar Dutzend Mandate einbringen würden. Conte, längst auch in der eigenen Bewegung umstritten, droht gar das Verschwinden in die politische Bedeutungslosigkeit. Denn: Strafe muss sein. (Dominik Straub aus Rom, 15.7.2022)