Nunay Mohamed, 25, die aus der von Dürre heimgesuchten Region Lower Shabelle geflohen ist, hält ihr einjähriges unterernährtes Kind in einem behelfsmäßigen Lager für Vertriebene am Stadtrand von Mogadischu.

Foto: The Associated Press / Farah Abdi Warsameh

Mogadischu – Ali Nur hat sein Kind begraben und ist losgezogen, zusammen mit den überlebenden Kindern und seiner Frau Salado. Fort aus dem Dorf, in dem die zwölfköpfige Familie lebte wie schon seine Großeltern. "Wie konnte es nur dazu kommen?" fragt der hagere Mann im Macawiis, dem traditionellen Wickelrock somalischer Männer. "Früher trugen unsere Felder so reiche Ernte, wir hatten Saatgut für die nächste Saison und konnten vieles verkaufen – Mais und Sorghumhirse, wir hatten viel Vieh."

Doch seit in Somalia wie in den anderen Ländern am Horn von Afrika vier Regenzeiten in Folge ausgeblieben sind, hat sich das Leben dramatisch verändert. Das Vieh fand in der ausgedorrten Landschaft nichts mehr zu fressen. Zu ernten gab es nichts mehr. Die Vorräte waren dahingeschmolzen, und Ali konnte förmlich zusehen, wie seine Kinder immer dünner und schwächer wurden. Die jüngste Tochter, knapp ein Jahr alt, hat den Hunger nicht überlebt.

Die zwölfjährige Habiba, ältestes Mädchen der Familie, konnte nicht mehr zur Koranschule, der Madrassa, gehen. Stattdessen zog das zierliche Mädchen mit den großen Augen jeden Morgen los, zum nächsten noch funktionierenden Brunnen. Das war eine Stunde Fußmarsch pro Wegstrecke, auf dem Rückweg mit einem vollen Zehn-Liter-Kanister – eine schwere Last für Habibas schmale Schultern.

Hoffen auf nächste Regenzeit im Herbst

"Vor zwei Wochen sind wir dann aufgebrochen und nach Baidoa gelaufen", sagt Ali Nur. Hinter der Familie, die damals zu den ersten Bewohnern im Camp Bulo Isaq gehörte, lagen 90 Kilometer Fußmarsch. Nun ist aus dem stolzen und einst wohlhabenden Bauern Ali ein mittelloser Bittsteller geworden. "Ich habe Arbeit in der Stadt gesucht, aber es gibt so viele Flüchtlinge inzwischen", sagt er. "Wenn ich Glück habe, gibt es Arbeit für ein paar Stunden, für einen Tag."

In der Hütte nebenan lebt Bushiya Farah mit dreien ihrer Kinder. Ihr Mann und die beiden Ältesten sind vorerst auf dem Dorf zurückgeblieben, hoffen, dort doch noch durchhalten zu können bis zur nächsten Regenzeit im Herbst – falls sie denn kommt. Die langfristigen Wetterprognosen sind nicht vielversprechend. "Inschallah" ("so Gott will"), hofft Bushiya auf Regen und damit auf eine Rückkehr zu ihrem früheren Leben – auch wenn das in Trümmern liegt.

"Im Mai starb unsere letzte Kuh", erzählt sie. Die Familie hatte 20 Rinder besessen – ihr ganzer Stolz und Wohlstand. Doch mit dem Tod der letzten Kuh gab es keine Milch mehr für die Kinder oder für den Handel auf dem Markt. "Ich habe Gras gesammelt und gekocht, damit ich meinen Kindern etwas zu essen geben konnte", sagt Bushiya. Dann sei auch diese Nahrungsquelle ausgegangen. Da blieb nur noch der Weg nach Baidoa, der drittgrößten Stadt Somalias im Südwesten des Landes.

Mehr als sieben Millionen bis Jahresende von Dürre betroffen

Erst kamen Dutzende, dann Hunderte, inzwischen sind es Tausende. Rund um die Stadt sind in den vergangenen Wochen und Monaten immer neue Lager entstanden für Menschen, die vor der Dürre geflohen sind. Die Vereinten Nationen gehen allein in Südwestsomalia von 230.000 Dürreflüchtlingen aus. Adam Abdelmoula, UN-Nothilfekoordinator für Somalia, schätzt die Zahl der allein in Somalia von Dürre betroffenen Menschen auf mehr als sieben Millionen bis zum Jahresende. Die Zahl unterernährter Kinder dürfte dann auf etwa 1,4 Millionen steigen.

Hilfsmaßnahmen für die Menschen auf den Dörfern werden auch durch die Lage in dem von Konflikten und Gewalt geprägten Land erschwert. Denn die Regierung hat zwar die Kontrolle über die Städte, kann dort Hilfsorganisationen die Arbeit ermöglichen. Doch bereits 15 Kilometer hinter Baidoa beginnt das Herrschaftsgebiet der islamistischen Terrormiliz Al-Shabaab, die keine Hilfsgütertransporte erlaubt. Überlandfahrten sind lebensgefährlich, auch für Somalis.

Probleme zwischen den Einheimischen und den Neuankömmlingen, gäbe es laut Abdi Adam Abdirahman, der Leiter des Camps Bulo Isaq, nicht: "Wir gehören schließlich alle dem gleichen Clan an", sagt der 38-Jährige. "Manche der Flüchtlinge haben entfernte Verwandte hier in Baidoa. Für uns gilt die Regel, dass wir sie behandeln müssen wie die eigene Familie. Würden sie einem anderen Clan angehören, wäre das anders. Aber dann wären sie gar nicht erst hierher gekommen."

"Das Leid ist groß"

Der Campchef ist dafür da, Neuankömmlinge über alles Wichtige zu informieren, Ansprechpartner für Behördenkontakte und Hilfsangebote zu sein, er ist Streitschlichter und Berater. Er hat auch ein offenes Ohr für Neuankömmlinge, die einen Platz brauchen, um dort eine Unterkunft aus Zweigen und Stofffetzen zu bauen. "Das Leid ist groß", sagt er. "So viele Menschen, die alles verloren haben."

Zu denjenigen, die nach einem langen Leben voll harter Arbeit vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, gehört Farah Mohamed, der sagt, er sei 77 Jahre alt. Sein Haar und sein Bart sind mit Henna leuchtendrot gefärbt. "Ich weiß noch, viele Jahre lang war unser Land fruchtbar", erzählt er. "Von einer einzelnen Maispflanze konnte ich zehn Maiskolben ernten." Doch das sei Vergangenheit, nicht nur wegen der Dürre und der ausgebliebenen Regenzeiten. "Ich weiß nichts über dieses Klima", meint er achselzuckend. "Aber unser Ertrag ist schon vor der Dürre weniger geworden."

Hinter Farah hört ein kleiner Junge neugierig zu. Auf seinem zerlöcherten T-Shirt steht "Never give up" (Gib niemals auf). Doch die Stimmung im Camp ist eher vor Resignation und Zukunftsangst geprägt. Eine alte Frau, die neben Farah sitzt, meldet sich zu Wort: "Unsere Kinder verhungern. Vergesst uns nicht!" (APA, red, 17.7.2022)