In der Mythologie waren Sirenen gefährliche Lebewesen, Vögel mit Frauenköpfen, die mit bezauberndem Gesang vorbeisegelnde Seeleute auf ihre Insel lockten, um sie dort zu töten. Odysseus, auf seiner Irrfahrt nach dem Krieg von Troja, wurde vor den Sirenen gewarnt, war aber neugierig. Um sich und seine Besatzung vor ihnen zu retten, ließ er die Ohren seiner Seemänner mit Wachs verschließen und sich selbst an den Mast des Schiffs binden. Als er den wunderschönen Stimmen der Sirenen lauschte, wurde er fast verrückt vor Sehnsucht und bat seine Leute, ihn loszubinden. Die konnten ihn wegen des Wachses aber nicht hören. So zog das Schiff an den Sirenen vorbei, ihr Gesang verklang in der Ferne, alle waren gerettet.

Nun, Harald Mahrer und Herbert Kickl heulen mehr, als sie singen, wenn sie fordern, dass wir Sanktionen gegen Russland lockern oder beenden sollen. Dennoch werden wir in den nächsten Monaten viel Wachs brauchen und einige unserer Politiker wohl an den Mast binden müssen.

Herbert Kickl heult mehr, als er singt, wenn er fordert, dass wir die Sanktionen gegen Russland lockern oder beenden sollen.
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Die russische Invasion der Ukraine ist schockierend, die Annexion eines anderen Landes aus der Zeit gefallen. Vor 30 Jahren hat das ein Land zuletzt versucht: als der Irak Kuwait überfiel. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft, unter der Führung der USA, mit der Unterstützung der Sowjetunion und der Duldung Chinas, war eine Koalition von 70 Ländern, die den Spuk in wenigen Wochen beendete.

Die Grundlage des Weltfriedens, des internationalen Staatensystems sind Grenzen: Sie sind sakrosankt, die von ihnen umrissenen Staaten souverän. Auch wenn dies nie perfekt war, so war die berechtigte Erwartung, nicht angegriffen und als Land ausgelöscht zu werden, besonders wichtig für das Gedeihen kleiner Länder wie Österreich.

Der russische Eroberungskrieg ist der wichtigste, der dramatischste Verstoß gegen diese Friedensordnung seit dem Zweiten Weltkrieg. Wenn die internationale Gemeinschaft, wenn Europa zulässt, dass Russland die Ukraine oder große Teile davon schluckt, wenn die vielen Kriegsverbrechen ignoriert werden, dann ist das ein Signal für andere Staatschefs: Mehr Kriege würden ausbrechen, alte Imperien auferstehen oder neue entstehen, und mehr Länder wären in Gefahr, okkupiert zu werden.

Wir können internationale Normen schützen, sie gegen Russlands Aggression verteidigen. Dazu müssen wir Wladimir Putin weiterhin entschlossen entgegentreten, mit Hilfeleistungen an die Ukraine, mit allem, was sie benötigt, um sich erfolgreich zu wehren. Und mit Ausdauer: bis der Preis für Putin und sein Land zu hoch wird.

Diejenigen, die die Sanktionen gegen Russland lockern wollen, während der Krieg weiterläuft, sind sich vielleicht nicht bewusst, welches Tabu sie brechen. Wenn die Stromrechnungen sich verdreifachen, mag ihr Sirenengesang süß klingen. Aber für den so teuer erkauften, kurzfristig etwas höheren Wohlstand würden wir eine neue Weltordnung akzeptieren, in denen Eroberungskriege normalisiert sind – mit weiteren abertausenden Toten und ruinierten Volkswirtschaften.

Wir müssen für Österreich die Folgen der Sanktionen so professionell wie möglich abfedern, und wir müssen standhaft bleiben.

Man bringe das Wachs. (Veit Dengler, 18.7.2022)