Von diesen fünf Personen wird im Herbst eine die Nachfolge des Premierministers Boris Johnson antreten.

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Rekordhitze zu Wochenbeginn. Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer stehen erneute Streiks bevor. Airlines müssen zehntausende Flüge streichen, weil Personal fehlt. Autofahrer stöhnen unter hohen Benzinpreisen. Das Nationale Gesundheitssystem NHS operiert spätestens seit Corona am Rand der Auslastung. Wer einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleidet, wartet 51 Minuten auf den Notarzt. Millionen von Patienten warten tagelang auf einen Termin beim Hausarzt, monatelang auf eine Zahnreparatur, häufig jahrelang auf dringende Eingriffe wie Knie- oder Hüftoperationen. In Schottland bastelt Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon am neuerlichen Unabhängigkeitsreferendum. Der wirtschaftlich vorteilhafte Sonderstatus Nordirlands ist bedroht, weil London Brüssel mit dem Bruch des Austrittsvertrags droht. Der Rausschmiss aus dem EU-Wissenschaftsprogramm Horizon und eine Abwanderung führender Forscher ist möglich.

Klimakrise, Verkehrsprobleme, der Moloch NHS, das kaputte Verhältnis zur EU – im Wettkampf um Boris Johnsons Nachfolge als konservativer Partei- und Regierungschef spielen langfristige Probleme des Landes keine oder nur eine marginale Rolle. Stattdessen streiten die verbliebenen drei Frauen und zwei Männer um den "Verrat" am jämmerlich gescheiterten Lügenpremier oder um Nischenthemen wie die Definierung von Transsexuellen. Vor allem aber geht es um die heilige Kuh der Konservativen: Steuersenkungen.

Zum Vorschein kommt eine von zwölf Regierungsjahren, der Brexit-Kontroverse und Johnsons Chaos ausgelaugte, ideenlose Partei. Es sei ja generell so, analysiert Andrew Palmer vom Economist, "dass lang regierende Parteien von der Macht gelangweilt sind und gern zu alten Gewissheiten zurückkehren". Bei den Tories trägt das Wahlsystem zur Nabelschau bei.

Aus fünf mach eins

Diese Woche dürfen die 358 Mitglieder der Tory-Unterhausfraktion so lange Kreuze auf Wahlzetteln machen, bis spätestens am Mittwoch aus dem Kandidatenquintett ein Duo geworden ist. Dieses soll dann bis Ende August durchs Land tingeln und sich den rund 180.000 Parteimitgliedern präsentieren, ehe am 5. September die Siegerin oder der Sieger ausgerufen wird. Zum Vergleich: Großbritannien hat nach jüngster Zählung knapp 50 Millionen Wahlberechtigte.

Heiß diskutiert wird über die Vertrauenswürdigkeit von Außenministerin Liz Truss, Handelsstaatssekretärin Penny Mordaunt, Ex-Finanzminister Rishi Sunak sowie Ex-Staatssekretärin Kemi Badenoch und Außenpolitik-Experte Tom Tugendhat. Die früheren oder amtierenden Regierungsmitglieder müssen sich zudem für individuelle oder kollektive Entscheidungen rechtfertigen; Außenseiter Tugendhat (49) verspricht kurz und bündig einen gänzlichen Neustart.

Kein zweiter Johnson erwünscht

Solche Fragen nach Charakter und Urteilsvermögen spielen diesmal schon deshalb eine große Rolle, weil sich die Partei keinen zweiten Schwindelpopulisten wie Johnson leisten kann. Dieser stellte zwar mit vollmundigen Versprechungen einen großen Wahlsieg sicher, erwies sich aber als zum Regieren ungeeignet. Der oder die Neue tritt nicht wie Johnson 2019 gegen einen gänzlich unfähigen Oppositionsführer an. Vielmehr stellt die erneuerte Labour Party unter dem charakterlich untadeligen Keir Starmer eine echte Herausforderung dar.

Dessen Programm bleibt einstweilen sehr verschwommen, was sich eine Oppositionspartei zwei Jahre vor dem regulären Wahltermin leisten kann – nicht aber die Regierungspartei, worauf die Bildungsexpertin Rachel Wolf hinweist. Die Leute werden fragen, was aus dem Regierungsprogramm umgesetzt wurde. Zu dessen Hauptpunkten zählt neben dem EU-Austritt die Modernisierung des NHS sowie das stets ein wenig verschwommene Projekt des "levelling up" (etwa: anheben).

Lange To-do-Liste

Gemeint sind damit verstärkte Investitionen in vernachlässigte Landesteile, vor allem im englischen Norden, sowie benachteiligte Bevölkerungsschichten. Da sei bisher praktisch nichts geschehen, mahnt Wolf. Zusätzlich müssten die Tories "über Hausarzttermine reden, über die steigenden Energiepreise und die Inflation". Schließlich seien dies die Probleme, die der Bevölkerung täglich auf den Nägeln brennen.

Eines ist gewiss: Angesichts düsterer Wirtschaftsprognosen und einer im Herbst zweistelligen Teuerungsrate wird der neue Mann oder die neue Frau in 10 Downing Street von Boris Johnsons Gewohnheit abrücken müssen, dem Land alles und auch das Gegenteil zu versprechen. (Sebastian Borger aus London, 18.7.2022)