In seinem neuen, anregenden Buch Staatskunst – Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert (C. Bertelsmann) beschäftigt sich Henry Kissinger mit Prüfsteinen der politischen Führung.

Seine Auswahl der sechs Spitzenpolitiker (Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar al-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher), die "die Umstände überwanden, die sie geerbt hatten, und dadurch ihre Gesellschaften an die Grenzen des Möglichen führten", gilt zu Recht als umstritten. In Krisenzeiten tauchten allerdings immer wieder auch Politiker mit "Charisma" auf, die sich der Situation nicht gewachsen zeigten und den gefährlichsten Kurs überhaupt verkörperten.

Mario Draghi war bisher ein Glücksfall – nicht nur für Italien.
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"Charismatisch" nennt man einen Politiker, der mit einer besonderen Ausstrahlungskraft Menschen gewinnen kann. Dass Italien dieser Tage vor dem Zusammenbruch der 67. Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg steht, ist nicht nur die langfristige Folge der durch die Anfang der Neunzigerjahre entlarvten systematischen Korruption aller Regierungsparteien. Sie hängt auch mit der wiederholten Verführung der Italiener durch den Mythos vom "Starken Mann" zusammen, mit ihrem Hang dazu, charismatischen Persönlichkeiten zu folgen. Es genügt an den langjährigen (und bis heute aktiven) Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi zu erinnern, der sich durch sein Medienimperium zahlreiche Prozesse wegen Bestechung und Steuerhinterziehung retten konnte. Ein politischer Witz besagt, dass die Italiener das stärkste Volk der Welt sind, weil sie ihre eigenen Politiker seit Jahrzehnten überleben.

Wendepunkt

Es gibt viele internationale Beispiele dafür, wie rasch sich jedes Charisma mit dem Sturz des Politikers verflüchtigen kann. In der italienischen Politik der letzten Jahre kam an einem Wendepunkt sogar zwei Mal die Rachsucht von Politikern zum Tragen, die ihre Popularität nach einem kurzen Zeitraum verloren haben. Als Sprengmeister der Regierungskrise Anfang 2021 hatte der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident (2014–2016) Matteo Renzi gewirkt. Er zog seine nach seinem Bruch mit den Sozialdemokraten gegründete kleine Partei aus der von dem damals parteilosen Anwalt und Rechtsprofessor Giuseppe Conte geführten Koalitionsregierung zurück.

Noch ausgeprägter ist die von persönlichen Rachegefühlen diktierte Kampagne des nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident in die Position des Parteichefs der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung gewechselten Contes gegen Mario Draghi, seinen im In- und Ausland hochgeschätzten Nachfolger (für Details siehe "Italien: Wie sich Ex-Premier Conte an Nachfolger Draghi zu rächen versucht"). Der Retter des Euro, als Chef der Europäischen Zentralbank (2011–2019). Draghi gelang es, an der Spitze einer wackligen Regierung der nationalen Einheit das Vertrauen der Finanzmärkte für das mit 151 Prozent der Wirtschaftsleistung hochverschuldete Land zurückzugewinnen und auch die EU-Kommission von der sinnvollen Verwendung der versprochenen Zuschüsse und Darlehen zu überzeugen.

Draghi war bisher ein Glücksfall – nicht nur für Italien. Sein unwiderruflicher Rücktritt am Mittwoch wäre ein Desaster für Italien und eine Hiobsbotschaft für die mit der Schwächung des Euro und der Inflation ringenden Europäischen Union. (Paul Lendvai, 19.7.2022)