Ein neues ORF-Gesetz nach der GIS-für-alle-Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs sollte Aufgabe und Kontrolle des ORF klarer und politikferner regeln.

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Warum GIS? Ich streame doch nur, was ich sehen will! Der Verfassungsgerichtshof sperrt nun – wirksam mit Ende 2023 – einen zutiefst österreichischen Weg. Einen österreichischen Weg, der mit Augenzwinkern vorbeiführte an Programmentgelten für den ORF und vorbei an GIS-Kontrolloren, vorbei an Logik und gleichem Recht.

Augenzwinkernd aus der GIS verabschieden

Das Höchstgericht hat in einem heftig diskutierten Erkenntnis entschieden: Bis Ende 2023 muss der Gesetzgeber die GIS und die Programmentgelte neu regeln. Der Gesetzgeber – also gemeinhin eine Regierungsmehrheit im Nationalrat – kann nicht einfach weiter zuschauen, dass sich mehr und mehr Menschen aus der GIS verabschieden, obwohl sie ORF-Angebote nutzen können (und das, wie zumindest in Forenbeiträgen nachzulesen, auch augenzwinkernd tun).

Das, sagen die Höchstrichterinnen und -richter in ihrer Entscheidung, widerspreche der Verfassung. Sie erklären das so: Das Bundesverfassungsgesetz Rundfunk, 1974 einstimmig beschlossen von SPÖ, ÖVP und FPÖ, verlangt ein Rundfunkgesetz, das Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit der Programme und Unabhängigkeit der Mitarbeiter und Organe des Rundfunks "gewährleistet".

Unabhängigkeit brauche unabhängige Finanzierung ohne wesentliche Ausnahmen

Das bedeute für die Höchstrichter auch eine entsprechend unabhängige Finanzierung – auch wenn sie nicht dezidiert genannt ist. Von dieser Finanzierung könne der Gesetzgeber nicht einen wesentlichen Teil der Menschen ausnehmen, die sich für eine andere, neuere Art der Nutzung entscheiden.

Motto: Man kann den anderen nicht zumuten, die Finanzierung des Gemeingutes öffentlich-rechtlicher Rundfunk auch für die Streamer mitzufinanzieren, weil sie ein gebührenpflichtiges, weil empfangsbereites Rundfunkgerät daheim haben und das zugeben.

Absurde Situation

In der Tat absurd war (und ist bis zum Ablaufdatum des Verfassungsgerichtshofs Ende 2023): Wer keinerlei ORF-Angebote nutzt, aber ein solches Rundfunkgerät daheim hat, musste GIS zahlen. Wer ORF-Programme streamt und kein stationäres TV- oder Radiogerät hat, zahlt nicht.

Aber warum dann nicht einfach ein Abo-Modell statt der GIS? Wer ORF-Programme nutzen will, soll GIS zahlen – und wer nicht, eben nicht. Boris Johnson gab diese Richtung als Ziel für die BBC vor, bevor er selbst gehen musste. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist – auch verfassungsrechtlich – als Aufgabe im Gemeininteresse definiert; und die ist auch gemeinschaftlich zu finanzieren wie Bundestheater oder eine Grundausstattung an Bildung.

Schon gehört?

Nur wer nutzt, zahlt: Das Prinzip könnte in der Praxis schwierig werden – auch wenn Pay-TV und Zugangssicherungen natürlich längst erfunden sind: GIS-Mitarbeiterinnen müssten dann statt nach dem betriebsbereiten Rundfunkempfangsgerät in der Wohnung fragen (oder lauschen), ob Sie mit Ihrem Radio Kronehit oder Ö1 hören – oder irgendwann gehört haben.

Wenn eine Gesellschaft übereinkommt, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk eine sinnvolle Aufgabe im Sinne der Allgemeinheit ist, dann muss sie ihn auch finanzieren – laut Bundesverfassungsgesetz Rundfunk und laut Interpretation des Verfassungsgerichtshofs möglichst unabhängig.

Logische Lösung Haushaltsabgabe

Eine logische Lösung haben zum Beispiel Deutschland und die Schweiz gefunden: eine sogenannte Haushaltsabgabe für öffentlich-rechtliche Angebote, unabhängig vom tatsächlichen Empfang. Sozial schwache Haushalte können sich von dieser Abgabe ebenso abmelden wie heute von der GIS. In Skandinavien setzt man auf zweckgewidmete Steuern für öffentlich-rechtliche Angebote, in Italien wird die Abgabe mit der Stromrechnung eingehoben.

Mit der Haushaltsabgabe in Deutschland – schon ab 2013 – wie der Schweiz wurde die Höhe der Beiträge fürs Erste gesenkt – mit Hinweis darauf, dass sich nun mehr Haushalte die Finanzierung teilen und mehr Geld hereinkommt.

Gerechtere GIS

Die Kanzlerpartei ÖVP (wie vor ihr die Kanzlerpartei SPÖ) traute sich bisher nicht über eine Haushaltsabgabe. Keine neue Steuern habe man versprochen – und wie würde gar der mächtige Boulevard lustvoll gegen eine neue "ORF-Steuer" kampagnisieren?

Die Haushaltsabgabe ist im Ergebnis keine neue Steuer, nur eine gerechter gestaltete GIS. Die FPÖ wollte die GIS ja de facto auch nicht abschaffen, als sie noch mit der ÖVP regierte. Türkis-Blau wollte die GIS nur durch eine für die Menschen weniger augenfällige ORF-Finanzierung aus dem Staatsbudget ersetzen – mit weniger Budget für einen "unbotmäßigen" ORF und unter noch größerer politischer Kontrolle.

Nächstes Thema für das Höchstgericht

Diese politische Kontrolle – insbesondere über eine große Mehrheit im ORF-Stiftungsrat für die Regierungsparteien – wird das nächste Medienpolitik-Thema für den Verfassungsgerichtshof. SPÖ-Dissident und Burgenlandeshauptmann Hans Peter Doskozil hat das Thema vor das Höchstgericht gebracht. Das ist wieder ein Feld der Medienpolitik, um das sich große Teile einer auf Einfluss hoffenden Politik drücken.

Der Verfassungsgerichtshof macht in Österreich nicht zum ersten Mal jene Medienpolitik, die die Medienpolitik nicht machen will – aus Eigeninteresse oder fehlendem Mut. Die Kanzlerpartei SPÖ und ihr Koalitionspartner ÖVP formulierten und beschlossen in den 1990er-Jahren trotz juristischer Warnungen als Letzte in Europa Privatradiogesetze und Privatfernsehgesetze, die vor allem dem Schutz des öffentlich-rechtlichen ORF dienten. Dessen Entscheidungsgremien besetzten die Regierungsparteien ja mehrheitlich. Der Verfassungsgerichtshof kippte diese teils absurden Regelungen – Privatfernsehen zum Beispiel wurde 1993 zugelassen –, aber nur in Kabelnetzen, nur mit Standbildern und werbefrei.

Schutzpolitik für den ORF

Diese Schutzpolitik für den ORF samt Finanzierung durch Gebühren – 650 Millionen Euro pro Jahr, bald noch deutlich mehr durch Gebührenerhöhung und GIS für Streaming – macht den ORF zum Marktbeherrscher im österreichischen Medienmarkt. Mit gut einer Milliarde Euro Umsatz ist er weitaus größter Medienkonzern, vielfach größer als alle Privatsender in Österreich zusammen und größer als die größten drei Printkonzerne.

Gemeinsames Spielfeld

Im Web kommen sie alle auf einem Spielfeld zusammen – private Medienhäuser, öffentlich-rechtliche und die Weltmarktbeherrscher der Werbung, Google, Facebook, Tiktok und Co. Die privaten Medienhäuser in Österreich versuchen ihre Position zwischen Google und ORF mit Beschränkungen für den ORF zu sichern. Und mit zusätzlichen Förderungen, womöglich auch gespeist aus Einnahmen aus einer Haushaltsabgabe (wie heute schon Privatrundfunkförderung aus Bundesabgaben auf die GIS finanziert wird).

Der Verfassungsgerichtshof erklärt seine Entscheidung für eine Rundfunkfinanzierung ohne Streamingausnahme damit, dass alle "über Rundfunk am öffentlichen Diskurs teilhaben können". Diesen Diskurs habe das Bundesverfassungsgesetz Rundfunk "vor Augen", wenn es Unabhängigkeit und andere Anforderungen an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorsieht.

Diskurs ist nicht alleine öffentlich-rechtlich

Für öffentlichen Diskurs aber sorgt nicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk alleine – das ist zumindest ebenso die unbestrittene Aufgabe privater Medien. Und das Bundesverfassungsgesetz Rundfunk gilt nicht alleine für öffentlich-rechtliche Medien, sondern auch für Private – wenn auch in der Praxis weniger eng ausgelegt.

Es braucht ein neues, zeitgemäßes ORF-Gesetz mit einer zeitgemäßen Finanzierung – aber ebenso mit möglichst klaren, wirksamen Bestimmungen, um die vom Verfassungsgesetz verlangte Unabhängigkeit bis in die Gremien durchzusetzen, möglichst fern von Staat und Parteipolitik – und möglichst transparent. Auch noch klarere Regeln, was nun die öffentlich-rechtliche Aufgabe des ORF im Allgemeininteresse genau ist, wären hilfreich.

Aber es braucht ebenso – gerade wegen der überragenden Position des ORF im österreichischen Medienmarkt – parallel ein Gesamtkonzept für den Erhalt einer größtmöglichen Vielfalt privater kommerzieller wie auch nicht kommerzieller Medien.

Dieser Tage verhandeln Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) und die Grünen über Medienpolitik, über Medienförderungen und Regierungswerbung und über ein neues ORF-Gesetz. Sie könnten diesmal – etwa beim Politeinfluss im ORF – nicht darauf warten, bis Höchstgerichte wieder Medienpolitik machen. Und ihre Erkenntnisse im Sinne der gesamten Medienlandschaft, im Sinne der Allgemeinheit umsetzen. (Harald Fidler, 19.7.2022)