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Wie hoch die Opferzahlen fünf Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine sind, ist unklar. Berichte aus ukrainischen Krankenhäusern, insbesondere im Landesosten, sind jedenfalls schauderhaft: häufiges Amputieren, steigende Nachfrage nach Prothesen, Ärzte, die rund um die Uhr operieren, fehlendes Material – und auch russische Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen.

Medienberichten zufolge können Ärzte mancherorts nur eine Erstversorgung leisten – für weiterführende Operationen, aber auch für wichtige gesundheitliche Eingriffe wie Krebsbehandlungen seien wegen des brutalen russischen Angriffskriegs kaum Kapazitäten vorhanden.

Nun sorgt die Schweiz für Aufregung, weil sie Anfragen von Nato und EU, Betroffene aus der Ukraine zur medizinischen Versorgung aufzunehmen, ablehnt. Mehrere Kantone wären dazu bereit gewesen; aber das Außenamt lehnt das mit dem Hinweis, dass das mit der Neutralität und dem Völkerrecht nicht vereinbar sei, ab.

Auch Österreich und Drittstaaten machen mit

Aufgedeckt hat diese vor allem bei Hilfsorganisationen und im kantonalen Gesundheitswesen umstrittene Entscheidung der "Tages-Anzeiger". Kaum wahrgenommen von der breiten Öffentlichkeit, sorgen die EU und ihre Mitgliedsstaaten, aber auch Drittstaaten wie Norwegen, seit Kriegsbeginn dafür, Menschen zur Behandlung in ihre Obhut zu nehmen. Rund 850 Fälle sind laut Diplomaten in Brüssel aktenkundig. Die meisten landen in deutschen und französischen Spitälern. Dabei wird nicht zwischen Zivilisten und Soldaten unterschieden.

Auch das neutrale Österreich beteiligt sich. Kanzler Karl Nehammer sagte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Mai zu, dass bis zu 100 Menschen aus der Ukraine versorgt werden sollen, vor allem in den Unfallspitälern der AUVA – etwa um Prothesen anzupassen, wenn jemand Arm oder Bein verloren hat. Bislang wurden drei Patienten behandelt, heißt es auf STANDARD-Nachfrage. Rechtlicher Rahmen ist das Zivilschutzprogramm der EU, an dem auch die Türkei, Serbien und Nordmazedonien teilnehmen. Nicht aber die Schweiz.

Genfer Konvention

Das Büro von Außenminister Ignazio Cassis begründet das damit, dass die Schweiz nicht Soldaten gesundpflegen dürfe, wenn diese dann womöglich in den Krieg zurückkehren. Und Staatssekretär Johannes Matyassy erklärte, es sei "fast unmöglich, Zivilisten von Soldaten zu unterscheiden". Gemäß Genfer Konvention beziehungsweise humanitärem Völkerrecht müssen neutrale Staaten geheilte Soldaten an der Rückkehr hindern und notfalls sogar inhaftieren.

Das Außenamt will nun mehr "Hilfe vor Ort" leisten. Kritiker sehen darin eine Ausrede, der Außenminister schiele in Wahrheit auf die Wahlen 2023 und wolle keine Komplikationen. Das Nein erkläre jedenfalls nicht, warum auch Zivilisten abgelehnt werden, findet der Chef der kantonalen Gesundheitsbehörden (GDK), Lukas Engelberger: "Aus humanitärer Perspektive wäre die Aufnahme von Zivilpersonen wünschenswert gewesen." (Thomas Mayer, Flora Mory, 19.7.2022)