Eine Zitrusfrucht spielt im Prozess um fortgesetzte Gewaltausübung gegen einen Wiener Schüler eine gewisse Rolle.

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Wien – Anna Marchart lernt als Vorsitzende des Schöffengerichts im Prozess gegen Mehmet viel über den zeitgenössischen Alltag an einer Neuen Mittelschule – neue Beleidigungen, Unterrichtsgegenstände und Abkürzungen. Dem vorbestraften 15-Jährigen drohen bis zu fünf Jahre Haft, da ihm die Staatsanwältin "fortgesetzte Gewaltausübung" gegen seine zum Teil unmündigen Mitschülerinnen vorwirft. Zum Drüberstreuen soll er auch einen Raubversuch und Diebstähle begangen und Schulmobiliar angezündet haben – insgesamt sind 27 einzelne Vorfälle angeklagt.

Der in Wien geborene Österreicher sitzt seit knapp zwei Monaten in Untersuchungshaft, wo ihn auch die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter getroffen hat. Wegen ihres Termindrucks erstattet Wörgötter ihr Gutachten, bevor der Angeklagte aussagt, und zeichnet darin ein eher düsteres Bild.

Schon in Vergangenheit "schwer auffällig"

Mehmet sei ein "noch sehr junger Jugendlicher", der sich intellektuell eher am unteren Rand der Norm bewege. Das Gespräch im Gefängnis empfand sie als "äußerst schwierig", da er "sehr derbe Ausdrücke" benutzte und auch "die Opfer mit sehr derben Begriffen bezeichnete", erinnert sich die Fachfrau. Er zeige sehr wenig Empathie oder Reue, bereits vor den angeklagten Vorwürfen sei er "schwer auffällig" gewesen und habe mehrmals die Schule wechseln müssen.

Laut Wörgötter habe der von Arthur Machac verteidigte Mehmet eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung, das Störungsbild sei "schwer und dringend behandlungsbedürftig". Ohne eine entsprechende Betreuung sei die Gefahr hoch, dass der Teenager wieder delinquent wird, ist sie überzeugt, eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher sei aber verfrüht. Die Frage, ob es sich um einen Fall von verzögerter Reife handle, der Angeklagte also auf dem Stand eines unter 14-Jährigen sei und damit straffrei bleiben müsste, verneint sie. Mehmet habe gewusst, was man darf und was nicht.

Der eher klein gewachsene Jugendliche bekennt sich teilweise schuldig und demonstriert dabei durchaus eine gewisse Reife. Beispiel Ladendiebstahl: "Wir haben geredet, dass wir nach der Schule klauen gehen. Zu einem Billa, dort gab es keinen Ladendetektiv." Die Beute: Energydrinks und Süßigkeiten.

Experiment mit Feuerzeug und Rückenlehne

Mehmet gibt auch zu, in der Schule gezündelt zu haben: Mit einem Feuerzeug habe er die Auswirkung einer Flamme auf die Rückenlehne eines Sessels untersucht. Beschädigt habe er ihn aber nicht, beteuert er. "Das war nur Ruß, ich habe es mit Spucke weggewischt, wie der Lehrer es gesagt hat." Es habe sich auch nur um ein Möbelstück und nicht wie angeklagt um zwei gehandelt.

Die Körperverletzung eines Mitschülers bestreitet der Angeklagte dagegen, im Zuge einer Rauferei habe man sich wechselseitig Schläge verpasst. Ebenso leugnet er den Raubversuch an einem unbekannt gebliebenen Opfer. Laut Anklage soll er versucht haben, einer älteren Frau ihre Handtasche von der Schulter zu ziehen.

Der 15-Jährige widerspricht: Während des Turnunterrichts sei man in einem Fußballkäfig gewesen. "Dann ist eine Oma gekommen" – "Wie alt war die?", fragt Vorsitzende Marchart. "Sicher 60." Die Dame habe geschimpft, er habe sie gegenüber seinen Klassenkollegen "Nazi-Oma" genannt, was sie noch wütender machte. Dann sei sie aber gegangen, er habe den Käfig nie verlassen. Der Turnlehrer habe die ganze Situation im Blick gehabt und sei nicht eingeschritten, betont der Angeklagte.

Fehlende Zeugenaussagen

Dass er zwei 13-jährige Mitschülerinnen monatelang misshandelt, genötigt und bedroht habe, was die fortgesetzte Gewaltausübung wäre, bestreitet er ebenfalls. Ja, es habe Konflikte gegeben, aber denen seien Provokationen vorausgegangen. Tatsächlich scheinen Polizei und Staatsanwaltschaft die Anklage primär auf den Angaben der Mädchen aufgebaut zu haben. Wie sich herausstellt, wurden viele mögliche Tatzeugen nie vernommen.

Offenbar geht es im Endeffekt um rund zwei Monate im heurigen Frühjahr. Eine der 13-Jährigen, die als Zeugin aussagt, beschreibt zwar, dass Mehmet von Beginn des Schuljahres an ungut gewesen sei und sie ständig "Pferdemädchen" genannt habe. "Was bedeutet das?", startet die Vorsitzende ihren Wissenserwerb. Der Unmündigen fällt kein passendes Synonym ein, es kristallisiert sich heraus, dass es um "fade, brave Mädchen mit guten Noten" geht.

Aufgrund eines Missverständnisses Ende Februar sei die Stimmung dann aber massiv umgeschlagen. An körperlichen Übergriffen habe es das Schlagen mit zusammengerolltem Heft auf den Kopf, einmal Wegschubsen und eine Orange ins Gesicht gegeben. Bei einem Streit habe Mehmet dem Mädchen gedroht: "Ich schmeiß dich aus dem Fenster." Interessanterweise sagt die Zeugin, dass sie sich davor nicht gefürchtet habe. Ihre größte Angst war, dass der Angeklagte ihr die Haare abschneide, was aber strafrechtlich nicht relevant ist.

"Ich werde ihre enge Muschi ficken"

Sie habe auch von Nachrichten des Angeklagten an ihren Sitznachbarn erfahren, in denen zu lesen stand: "Sag ihr, ich werde ihre enge Muschi ficken, ich werde sie töten." Er habe ihr auch mindestens viermal in den fraglichen acht Wochen durch Gesten Schläge und Stiche angedroht. Zugetraut habe sie ihm, dass er sie schlage oder mit einem Messer verletze, antwortet sie auf die Frage der Vorsitzenden, wovor sie sich gefürchtet habe.

Den angedrohten Fenstersturz stellt Mehmet anders dar. Es sei zu einer Auseinandersetzung gekommen, er wollte, dass die 13-Jährige sich entfernt. Das Mädchen habe ihn vor versammelter Klasse als "Hurensohn" beschimpft, was er mit "Du kleine Schlampe, verpiss dich", quittierte. Da sie nicht von dannen zog, habe er gesagt: "Wenn ich will, schmeiß ich dich aus dem Fenster!"

Denn: "Ich wollte so ein bisschen cool dastehen", schließlich sei ein weiteres Mädchen, mit dem er "auch so eine – sagen wir – Art Beziehung hatte", daneben gestanden. Diese junge Frau könne auch bezeugen, dass seine Ankündigung "Ich brech dir deine Nase!" nur als Scherz zu verstehen sei. "Das ist sowas wie mein Markenzeichen", erklärt der Angeklagte. "Das ist aber ein ganz blödes Markenzeichen", findet Vorsitzende Marchart. "Ja ja, Sie haben eh recht", gesteht Mehmet zu. Auch die Orange hätte eigentlich dieses andere Mädchen treffen sollen, die habe sich aber geduckt, die Zeugin sei zum Kollateralschaden geworden, behauptet der Angeklagte.

Vertagt auf 26. Juli

Nach dieser 13-jährigen Zeugin entsteht also noch kein klares Bild, ob es sich beim Angeklagten – der übrigens gelegentlich so mit dem Anklagestuhl schaukelt, dass man sich in seine eigene Schulzeit zurückversetzt fühlt und den Drang spürt, ruckartig an der Rückenlehne zu ziehen – um einen gestörten Gefährder oder um einen hormonell völlig überforderten Teenager mit geringer Frustrationstoleranz und Selbstwertproblemen handelt. Für weitere Zeugen vertagt Marchart daher auf den 26. Juli, auch im September wird ein Verhandlungstermin nötig sein. Mehmets Untersuchungshaft wird verlängert. (Michael Möseneder, 19.7.2022)