Das Hormonpräparat Progynon, das seit den 1950er-Jahren und bis vor kurzem für Geschlechtswechsel zum Einsatz kam, wurde in den 1920er-Jahren in Wien mitentwickelt.

Fatih Aydogdu

Es ist nur das jüngste Beispiel dafür, wie sehr die Debatte mittlerweile aus dem Ruder gelaufen ist. Anfang Juli wollte die Biologiedoktorandin Maria-Luise Vollbrecht an der Humboldt-Universität in Berlin einen Vortrag über Biologie und Evolution der zwei Geschlechter halten. Doch nach Protesten von Studierenden und dem Vorwurf, die Vortragende sei feindlich gegenüber Transpersonen, wurde die Veranstaltung von der Unileitung abgesagt.

Heftige Reaktionen waren die Folge. Zu Recht wurde moniert, dass durch solche Absagen die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr sei. In der Zwischenzeit hat Vollbrecht ihren Vortrag "Geschlecht ist nicht gleich (Ge)schlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt" gleich doppelt nachgeholt – zuerst im Netz und vergangenen Donnerstag auch an ihrer Uni. Einer Podiumsdiskussion über Wissenschaftsfreiheit blieb sie allerdings fern.

Drehen an der Eskalationsschraube

Stattdessen hat die Biologin letzte Woche rechtliche Schritte wegen einer "Rufmordkampagne" gegen sie angekündigt. Am Freitag sammelte sie auf der Plattform Gofundme 15.000 Euro Spenden für Rechtshilfe, um juristisch gegen "Verleumdungen im Zusammenhang mit ihrem abgesagten Vortrag" vorgehen zu können.

Die Proteste gegen Vollbrechts Vortrag hatten freilich eine Vorgeschichte: Die Biologin war Mitautorin eines Anfang Juni erschienenen Gastkommentars in der Zeitung "Die Welt". Der polemische Text warf dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor, Kinder mit Transgender-Ideologie zu indoktrinieren. (Ein sehenswertes wissenschaftsjournalistisches "Beispiel" findet sich hier.) Sogar Springer-Chef Mathias Döpfner sah sich daraufhin genötigt, in einem offenen Brief den Kommentar als "intolerant und ressentimentgeladen" zu kritisieren.

Und es gibt noch einen anderen, größeren Hintergrund: Die neue deutsche Regierung plant ein Selbstbestimmungsgesetz, das zwar noch nicht einmal als Entwurf vorliegt. Fest steht nur, dass es den Geschlechtswechsel erleichtern soll, was viele (vor allem, aber nicht nur Frauen verschiedener politischer Gesinnung und sexueller Orientierung) als ein Problem sehen – so auch Vollbrecht.

Queere Denkansätze

Während sich diese Front der Genderdebatte immer weiter verhärtet, hilft es womöglich, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick zurück auf ihre wissenschaftlichen und aktivistischen Grundlagen zu werfen.

In der üblichen Sichtweise sind diese Errungenschaften vergleichsweise neu: Als wichtiger Meilenstein gilt Judith Butlers Streitschrift "Das Unbehagen der Geschlechter", die im Original unter dem Titel "Gender Trouble" 1990 erschien und bis heute die Debatte prägt. Die US-amerikanische Philosophin regte dazu an, Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnisse radikal neu zu denken. Als Mann oder Frau wahrgenommen zu werden entstehe vor allem durch "Performation" und sei entsprechend gestaltbar.

Es blieb aber nicht bei diesen Dekonstruktionen von Gender, also des "sozialen Geschlechts". Auch das biologische Geschlecht und seine beiden Ausprägungen wurden infrage gestellt: So schlug die US-Biologin und Genderforscherin Anne Fausto-Sterling in einem selbst als "provokant" bezeichneten Aufsatz aus dem Jahr 1993 gleich fünf Geschlechter vor: neben männlich und weiblich auch noch drei Ausprägungen von Hermaphrodismus: herm, merm, ferm. Damit wurde nun auch die Geschlechterbinarität zugunsten von Inter- und Transsexualität relativiert. (Ein paar Jahre später hat Fausto-Sterling dann ihre Behauptungen übrigens wieder etwas korrigiert.)

Vordenker in Wien und Berlin

Doch gab es solche Ansätze nicht auch schon früher? Tatsächlich finden sich bei einem Blick zurück in die Wissenschaftsgeschichte bereits vor rund hundert Jahren einige "Großväter" für etliche dieser heutigen Positionen, insbesondere in Wien und Berlin nach 1900.

Sowohl die damalige theoretische Diskussion wie auch der Aktivismus war damals allerdings von Männern geprägt – und nicht unbedingt immer von solchen, die sich in einem Stammbaum gut als "Großväter" eignen. In Wien etwa war der antisemitische und frauenfeindliche Philosoph Otto Weininger mit seinem 1903 posthum erschienenen Buch "Geschlecht und Charakter" der einflussreichste Vertreter jener Theorie, gemäß der die Übergänge zwischen weiblich und männlich fließend seien.

Weininger, der alles Weibliche für minderwertig hielt, war bei seinen Ausführungen zur Gradualität der Geschlechter vermutlich von zeitgenössischen Pionieren der Sexualforschung wie Magnus Hirschfeld beeinflusst. So gab Hirschfeld, der selbst homosexuell war, aber auch enge Kontakte zur Frauenbewegung hatte, ab 1899 in Berlin das "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" heraus, in dem wichtige Beiträge zu Homosexualität und Transgenderthemen veröffentlicht wurden.

Radikale biologische Konzepte

Doch auch in der damaligen Biologie wurde die Sicht auf die Geschlechterbinarität erweitert: Der Genetiker Rudolf Goldschmidt, der ebenfalls in Berlin tätig war, prägte auf Basis seiner Forschungen an Motten 1915 den Begriff Intersexualität. In Wien wiederum behauptete der umstrittene Biologe Paul Kammerer mit Verweis auf Weininger, Goldschmidt und andere neuere biologische Studien, dass es überhaupt nur ein Geschlecht gebe – "und das ist der Zwitter".

Paul Kammerer war nicht nur von der Uneindeutigkeit der zwei Geschlechter, sondern auch von ihrer Veränderbarkeit überzeugt.
Foto: gemeinfrei

Anschließend heißt es in dem Artikel, der 1920 unter dem Titel "Die Geschlechter" erschien: Am häufigsten sind zwar "vorwiegend weibliche Weiber, vorwiegend männliche Männer; von da aus werden sie seltener nach entgegengesetzten Richtungen, erstens bis zur (verhältnismäßig) ungemischten Männlichkeit und Weiblichkeit, zweitens zum echten, mittenstehenden Zwitter".

Transsexuelle Hamster

Der exzentrische Biologe und notorische Homme à Femmes (heute eher: Cis-Mann), der an der Biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater arbeitete, war in seinen Konzepten einer fluiden Geschlechteridentität auch durch seine dortige Zusammenarbeit mit Eugen Steinach beeinflusst. Der Physiologe, der ab 1920 elf Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde, berichtete bereits 1913 erstmals über seine Experimente zur "Feminierung von Männchen und Maskulierung von Weibchen", die er an Hamstern und Ratten durchführte.

Eines von vielen kunstvollen Rattenpräparaten aus Steinachs Labor im Wiener Prater: Diesem Tier wurden im Alter von einem Monat Hoden (Tr) eingepflanzt, die 14 Monate lang im Körper blieben und Hormone produzierten.
Foto: gemeinfrei

Steinach war damals zwar nicht der einzige Forscher, der Geschlechtsumwandlungen bei Tieren durch Verpflanzung von Keimdrüsen herbeiführte. Aber er war wohl der einflussreichste. Kurzfristig weltberühmt wurde er für eine Therapie, die sich später allerdings als Irrtum herausstellen sollte: Er glaubte, dass die Durchtrennung der Samenleiter die körpereigene Produktion von Testosteron anregt, was alternde Männer verjüngen würde. Etliche Prominente wie Sigmund Freud oder William Butler Yeats unterzogen sich deshalb der Operation.

Pionier der Sexualhormonforschung

Ein bleibenderes Erbe hinterließ Steinach aber mit anderen Pionierarbeiten zu den Sexualhormonen. Er entwickelte mit der Firma Schering nicht nur das erste funktionierende Hormonpräparat namens Progynon, das ab 1928 vor allem gegen Wechseljahrbeschwerden zur Anwendung kam. Seine Pionierarbeit zur Wirkung von Östrogenen (also von weiblichen Sexualhormonen) auf das Gehirn und das Sexualverhalten von Ratten aus dem Jahr 1936 war so weit ihrer Zeit voraus (und nach 1945 zugleich so vergessen), dass sie fast 80 Jahre später noch einmal in englischer Übersetzung erschien.

Zeitgenössische Werbung für Progynon. Das Präparat wurde aus dem Urin schwangerer Frauen gewonnen.

Progynon war aber vor allem das erste Präparat, das bei Geschlechtsumwandlungen eingesetzt wurde. Einer der ersten, der es verschrieb, war der deutsch-amerikanische Sexologe Harry Benjamin, der Anfang der 1950er-Jahre den Begriff Transsexualität erfand und prägte. In seinen maßgeblichen Arbeiten über dieses Phänomen, das die heutigen Genderdebatten prägt, ließ Benjamin die konzeptuellen und experimentellen Vorarbeiten an der Biologischen Versuchsanstalt in Wien freilich unerwähnt.

Das ist nicht zuletzt deshalb erwähnenswert, weil Benjamin in den 1920er-Jahren gleich mehrere Sommer in Wien verbrachte – um sich einerseits bei Freud seine Potenzprobleme behandeln zu lassen und andererseits, um von Steinach und Kammerer zu lernen. (Klaus Taschwer, 20.7.2022)