Im Gastkommentar warnt die ehemalige Präsidentin Lettlands, Vaira Vīķe-Freiberga, davor, russische Drohungen gegen Nachbarländer auf die leichte Schulter zu nehmen.

Die brutale Aggression des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine lässt sich nur als Versuch der Verwirklichung einer imperialistischen Fantasie erklären – nämlich den 350. Geburtstag Peters des Großen mit der Nachahmung der territorialen Eroberungen des Zaren zu feiern. Doch Peter wurde nicht allein durch militärische Erfolge "der Große". Er setzte auch Reformen um und baute an der Ostseeküste Sankt Petersburg als "Fenster zu Europa". Er wollte, dass sein Land moderner und fortschrittlicher wird. Putin erreicht mit der Isolation Russlands das Gegenteil der Errungenschaften seines Idols.
"Putin und seine autoritären Gesinnungsgenossen repräsentieren eine Welt des Rückschritts, nicht des Fortschritts."
Die von der russischen Armee in der Ukraine praktizierte Politik der verbrannten Erde – die einen eklatanten Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen und das Völkerrecht darstellt – erinnert tatsächlich daran, was Peter der Große im Laufe seines Krieges gegen König Karl XII. von Schweden der Ukraine antat. Doch die Unterdrückung der Gedanken- und Redefreiheit durch Putin in Russland stellt eine beängstigende Neuauflage jener totalitären Methoden dar, wie sie die Sowjetunion kennzeichneten.
Der Krieg verwüstet die Ukraine, untergräbt die globalen Energie- und Lebensmittelmärkte und destabilisiert Länder in aller Welt. Putin hat uns an einen historischen Wendepunkt gebracht. Versuchen wir nun, die bestehende Weltordnung zu verbessern, oder marschieren wir stattdessen rückwärts im Takt selbstgefälliger, gewalttätiger und zynischer Führer? Der Revisionismus Putin'scher Ausprägung mit seiner obsessiven Konzentration auf die Wiedergutmachung längst vergangenen Unrechts ist eine klare Bedrohung für jedes Land. Putin und seine autoritären Gesinnungsgenossen repräsentieren eine Welt des Rückschritts, nicht des Fortschritts.
Beunruhigende Drohung
Die haarsträubenden Anschuldigungen, die Russland gegen die Ukraine erhebt, um die Invasion vom 24. Februar zu rechtfertigen, sind lediglich der jüngste und extremste Ausdruck der Weigerung Putins, den Zusammenbruch der Sowjetunion zu akzeptieren. Anstatt Russland in einen freien, demokratischen und normalen Nationalstaat umzuwandeln – ein Prozess, den viele andere postimperiale Staaten erfolgreich hinter sich brachten – hat Putin seine Energie für revanchistische Angriffe aufgewendet, die darauf abzielen, das verlorene Imperium wiederherzustellen.
Deshalb ist es auch so beunruhigend, wenn beispielsweise ein Abgeordneter der russischen Duma vorschlägt, die Anerkennung der Unabhängigkeit Litauens durch die Sowjetunion im Jahr 1991 für null und nichtig zu erklären. Im Gefolge des Ukraine-Krieges dürfen solche Drohungen von niemandem auf die leichte Schulter genommen werden.
Ring von Vasallenstaaten
Russlands aggressive Haltung gegenüber Gebieten, die es einst besetzt oder annektiert hielt, ist eine echte Bedrohung für jeden Staat an seiner geografischen Peripherie. In dieser Hinsicht bilden das zaristische, das sowjetische und das Putin-Regime ein Kontinuum. Und jenseits unmittelbarer territorialer Ansprüche geht es um die Forderung nach einer Einflusssphäre, die in Wirklichkeit aber eine Kontrollsphäre sein soll. Nach Putins Ansicht fühlt sich Russland durch eine mögliche Aggression von außen, insbesondere aus dem Westen, in einem Maße bedroht, dass es von einem Ring von Vasallenstaaten umgeben sein muss.
Die Ukraine wird angegriffen, weil sie sich diesem unterwürfigen Status trotzig verweigerte – und das ohne Schutz durch die Nato oder die Europäische Union. Die ehemaligen Sowjetrepubliken Lettland, Litauen und Estland gehören hingegen der EU an und sind auch Nato-Mitglieder. Russland hat jedoch in allen Ländern, die zu seinem mutmaßlichen Vasallenring gehören, von mir so bezeichnete Kuckuckseier gelegt. Diese sollen sich zu internen Reibungspunkten oder – aus Kreml-Perspektive noch besser – zu eingefrorenen Konflikten entwickeln, die friedlich nicht zu lösen sind.
Russlands "Kuckuckseier"
Wir haben das schon einmal erlebt, nämlich in Form der langfristigen Strategie der Sowjetunion, rund um einen zentralrussischen Kern so viele Gebiete wie möglich zu besetzen. In jedem dieser Fälle platzierten die sowjetischen Führer eine Zeitbombe, die entweder zu einem günstig gewählten Zeitpunkt explodieren würde oder durch das Schüren von Feindseligkeiten oder Konflikten innerhalb und zwischen Nachbarstaaten zur Detonation gebracht werden konnte. Putins Fortführung dieser Strategie ist weitgehend für den aktuellen Reigen eingefrorener Konflikte jenseits der Grenzen Russlands verantwortlich.
So erbte die Republik Moldau nach dem Zerfall der Sowjetunion theoretisch das stark industrialisierte und russifizierte Transnistrien. In der Praxis wurde diese Region aber rasch zu einer russisch kontrollierten Exklave. Auch Georgien wurde 2008 durch die russische Invasion um fast ein Fünftel seines Territoriums beraubt, und die abtrünnigen Regionen befinden sich nun fest unter der Kontrolle des Kremls.
Im Jahr 2014 marschierte Russland auf der Krim ein und annektierte die Halbinsel. Überdies nahmen russische Truppen auch einen Großteil der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk ein. Und erst nach einem Krieg in der Region Bergkarabach im Jahr 2020 konnte Aserbaidschan rechtmäßig Gebiete zurückgewinnen, die das von Russland unterstützte Armenien jahrzehntelang besetzt gehalten hatte.
Gedeihliches Zusammenleben
Guter Wille bildet die Grundlage des zivilisierten Zusammenlebens von Regionen, Ländern und Menschen. Kurz nach meiner Wahl zur Präsidentin Lettlands 1999 erhielt ich Briefe von einem Geschwisterpaar, das von seinen Eltern ein restituiertes Haus geerbt hatte. Sie konnten sich einfach nicht einigen, wie sie ihr Erbe aufteilen sollten. Beide erklärten, nicht zusammen unter einem Dach leben zu können. Der Bruder drohte entnervt, das Holzhaus in zwei Hälften zu sägen, die Schwester klagte über die drohende Zerstörung des Hauses.
Manchmal können sich nicht einmal Menschen innerhalb einer Familie auf ein gedeihliches Zusammenleben einigen, weswegen wir uns nicht wundern sollten, wenn es zu Konflikten auf breiterer Front kommt. Wenn diese jedoch eintreten, darf es keinem Anführer ermöglicht werden, das Haus in zwei Hälften zu sägen. (Vaira Vīķe-Freiberga, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 20.7.2022)