Am Bahnhof von Przemyśl, ganz im Osten Polens, haben Abschied und Ankunft ihre alltägliche Bedeutung längst verloren. Hier endet die Europäische Union, am Bahnsteig steht Zugpersonal aus der benachbarten Ukraine, wo Krieg herrscht. Viele Geflüchtete sind seit Beginn des russischen Angriffs vor knapp sechs Monaten in Przemyśl angekommen. Und manche sind von hier auch wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.

Am Dienstagabend stiegen Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg und sein tschechischer Amtskollege Jan Lipavský am Bahnhof von Przemyśl gemeinsam in den Nachtzug nach Kiew. Eigentlich war es eine Reise im sogenannten Austerlitz-Format, der trilateralen Staatengruppe, bestehend aus Österreich, Tschechien und der Slowakei. Der slowakische Außenminister Ivan Korčok war jedoch kurz vorher positiv auf Corona getestet worden und musste seine Teilnahme im letzten Moment absagen.

Fast 14 Stunden dauert die Fahrt nach Kiew. Die Fenster sind mit durchsichtiger Folie verklebt, damit sie im Fall eines Angriffs nicht zersplittern. Sobald es draußen dunkel wird, müssen aus Sicherheitsgründen auch die Rollos herunter. "Als wir das letzte Mal im Austerlitz-Format hier waren, hatten wir doch Hoffnung, dass es noch Raum für die Diplomatie gibt", sagte Schallenberg im Zug vor mitreisenden Journalistinnen und Journalisten. "Doch keine zwei Wochen später, am 24. Februar, kam es zum brutalen Zivilisationsbruch, den wir damals nicht für möglich gehalten haben."

Jan Lipavský, Ivan Korčok und Alexander Schallenberg besuchten Anfang Februar die Ukraine und auch die bereits damals umkämpfte Region Luhansk. Bald darauf startete Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Foto: Reuters

Manches habe sich dennoch nicht geändert, sagt Schallenberg – und das sei ein gutes Zeichen: "Wir können immer noch nach Kiew fahren. Der Präsident heißt immer noch Wolodymyr Selenskyj, und mein Gegenüber heißt immer noch Dmytro Kuleba." Die neuerliche Reise sieht Schallenberg als "klares, fortgesetztes Zeichen der Solidarität aus Zentraleuropa".

Große Hilfsbereitschaft

Das gelte auch für die Unterstützung von Vertriebenen: Unter den Staaten, die Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen, lägen die drei Austerlitz-Länder pro Kopf allesamt unter den Top vier – hinter Spitzenreiter Polen. Allein in Österreich hätten Schallenberg zufolge 80.000 Ukrainerinnen und Ukrainer Zuflucht gefunden, insgesamt seien 400.000 vorübergehend ins Land kommen.

Nach der Ankunft in Kiew besuchten Schallenberg und Lipavský am Mittwoch zunächst den Flughafen Hostomel sowie die nahegelegene Stadt Irpin – oder das, was davon übrig ist. Beide Orte waren zu Beginn des Kriegs schwer umkämpft. Hostomel sollte ein Brückenkopf für den russischen Nachschub beim Angriff auf Kiew werden, ukrainische Soldaten konnten das Gebiet aber rasch zurückerobern.

Die Außenminister besuchen auch die vom Krieg schwer getroffene Stadt Hostomel.
Foto: Gerald Schubert

Aus Irpin wiederum sind laut Bürgermeister Oleksandar Markuschin, der beide Außenminister vor den Bombenruinen seiner Stadt empfing, während der Kämpfe zu Kriegsbeginn etwa 95 Prozent der 100.000 Einwohner geflohen. Mittlerweile aber seien 75 Prozent in die Stadt zurückgekehrt. "Wenn wir die Schlacht von Irpin nicht gewonnen hätten, wäre es zu Kampfhandlungen direkt in Kiew gekommen", ist Markuschin überzeugt.

All das zeige, wie Wladimir Putin sich verkalkuliert habe, sagte Schallenberg in Irpin. Die russischen Truppen hätten gedacht, dass "sie mit Brot und Salz empfangen werden, und nicht, dass auf sie geschossen wird".

Schallenberg vor einem Flugzeugwrack am Flughafen Hostomel bei Kiew.
Foto: BMEIA/ Michael Gruber

Vor ihrem Termin bei Präsident Selenskyj trafen Schallenberg und Lipavský in Kiew mit ihren ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba zusammen. Kuleba dankte den beiden Gästen aus Wien und Prag für die Unterstützung. Das Nato-Land Tschechien liefere im Gegensatz zum neutralen Österreich auch Waffen an die Ukraine, Österreich sei jedoch in vielen anderen Bereichen ein "verlässlicher Partner" – unter anderem im Zusammenhang mit der Zuerkennung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine.

Falsche Schuldzuweisung

Tschechiens Außenminister Jan Lipavský, dessen Land gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat, kündigte an, die EU-Russland-Strategie überarbeiten zu wollen. Seinen ukrainischen Kollegen Kuleba lud er zu einer EU-Außenministerkonferenz in Prag ein, die sich Ende August mit dieser Frage beschäftigen soll. Der Westen habe die Aggression Russlands lange Zeit unterschätzt – und nun müsse die Ukraine dafür bezahlen.

In diese Kerbe schlug auch Schallenberg: "Wir brauchen eine Welt, wo Rechtsstaatlichkeit gilt, nicht das Gesetz des Dschungels." Es müsse alles getan werden, um diesen Krieg zu beenden, aber: "Ganz bestimmt darf ein Frieden nicht von Russland diktiert werden." (Gerald Schubert aus Kiew, 20.7.2022)