Nikola Dimitrov, der Ex-Außenminister Nordmazedoniens, wirft der EU vor, mit ihrer aktuelle Erweiterungspolitik uneuropäische Ansätze zu verfolgen.

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Am Dienstag konnten Albanien und Nordmazedonien nach vielen Jahren des Wartens mit den EU-Beitrittsverhandlungen beginnen. Doch was wie ein Durchbruch aussieht, ist für Nordmazedonien nur eine weitere Demütigung, meint der frühere Außenminister des Landes, Nikola Dimitrov. Denn bis zum Herbst muss nach dem Wunsch von Bulgarien eine Verfassungsänderung durchgeführt werden, die jedoch angesichts der fehlenden Zweidrittelmehrheit unmöglich ist. Nordmazedonien, das im Vergleich zu allen anderen EU-Anwärtern auf dem Westbalkan am meisten Reformen und Anstrengungen unternommen hat, wird zum wiederholten Mal von der EU im Stich gelassen.

STANDARD: Einige Experten bezeichnen den französischen Vorschlag zur Aufhebung des Vetos seitens Bulgariens als Falle für Nordmazedonien. Ist es realistisch, dass die mazedonische Verfassung geändert werden kann?

Dimitrov: Der Beginn der langerwarteten Beitrittsgespräche nach 17 Jahren als Kandidatenland wurde in zwei Schritte aufgeteilt. Der erste fand am Dienstag in Brüssel statt, aber der zweite Schritt, um die Eröffnung abzuschließen, ist von der Annahme einer Verfassungsänderung abhängig, die Bulgarien in die Präambel einbezieht. Die EU hat nun den Sieg erklärt und wird weitermachen, aber Nordmazedonien wird steckenbleiben und dafür verantwortlich gemacht werden. Denn die Opposition hat bereits lautstark versprochen, nicht für die Gesetzesänderung zu stimmen, und redet sogar über die Einleitung eines Referendums. Bulgarien möchte, dass die Bulgaren als eines der konstituierenden Völker in Nordmazedonien erwähnt werden, leugnet jedoch die Identität und Sprache der Mehrheit – des mazedonischen Volkes. Sofia reichte auch eine Erklärung ein, in der man im Wesentlichen behauptete, dass die mazedonische Sprache ein künstlicher und schlechterer Dialekt des Bulgarischen sei und dass Bulgarien ihre Existenz nicht anerkenne. Diese Worte sind beleidigend, primitiv und alles andere als gutnachbarlich und sollten im Europa des 21. Jahrhunderts keinen Platz mehr haben.

STANDARD: Wie würden Sie den Mechanismus beschreiben, der durch den französischen Vorschlag für den Verhandlungsprozess mit Nordmazedonien eingeführt wird?

Dimitrov: Zum allerersten Mal werden Fragen der Geschichte und Identität Teil des Beitrittsprozesses, der ja eigentlich ein Instrument für demokratische und wirtschaftliche Reformen sei soll. Die Europäische Kommission wird demgemäß über Fortschritte von Historikern informieren, und deren Einschätzung wird vom EU-Rat bei der Entscheidung über die nächsten Schritte auf der EU-Reise Nordmazedoniens berücksichtigt. Ironischerweise ist der EU-Beitrittsprozess damit zu einem Instrument geworden, um ein grundsätzlich antieuropäisches Ziel zu unterstützen: ein nationalistisches Geschichtsnarrativ aufzuzwingen und die Selbstwahrnehmung der Mazedonier zu verändern. Dies birgt die Gefahr, dass der Beitrittsprozess vollständig an den Rand gedrängt wird, und öffnet die Büchse der Pandora. Indem er den nationalistischsten Forderungen eines einzelnen Mitgliedsstaates nachgibt, "inspiriert" der Vorschlag andere, dasselbe zu tun. Das reduziert die EU von einer Wertegemeinschaft zu einer Studentenbude, in der es einzelnen Mitgliedern freisteht, ihre schwächeren Nachbarn zu schikanieren.

STANDARD: Wird Bulgarien auf der Grundlage des französischen Vorschlags, also des unterzeichneten Protokolls, verlangen können, dass Nordmazedonien revisionistische Ideologien der Nation, der Geschichte und der Sprache befolgt?

Dimtrov: Schulbücher, Denkmäler, Museumsausstellungen etc. sollen demnach angepasst werden, um die Schlussfolgerungen der Historikerkommission widerzuspiegeln, bevor Nordmazedonien Mitglied der EU wird. Neben der Bekämpfung von Korruption, Rechtsstaatlichkeit, demokratischen und wirtschaftlichen Reformen wird unser Fortschritt auf dem Weg zur Mitgliedschaft also auch davon abhängen, wie weit und wie schnell wir die bulgarische Sicht auf Geschichte und Identität verarbeiten. Das wird natürlich nach hinten losgehen. Anstatt die Reformer zu stärken, löst so ein Prozess eine tiefe politische Krise in Nordmazedonien aus und schürt Feindseligkeit gegenüber Bulgarien.

STANDARD: Welches Signal wird mit diesem Protokoll, also dieser Politik der EU und den revisionistischen Forderungen Bulgariens, an den Westbalkan ausgesendet?

Dimitrov: Diese Erweiterungspolitik kann von einem Mitgliedsstaat gekapert werden, um veraltete nationalistische Agenden zu verfolgen, die nichts mit den Werten und Verträgen der EU zu tun haben. Ein Freund von mir hat gemeint: Die sechs Länder der Region sind wie Passagiere in einem Bus, die versuchen, möglichst weit vorne einen Platz zu finden. Aber der Bus hat keinen Sprit. Nach Angaben der Europäischen Kommission ist Montenegro nach zehn Jahren im Beitrittsprozess genauso weit auf die Mitgliedschaft vorbereitet wie Nordmazedonien. Ohne politischen Treibstoff ist es nicht sicher, ob der Bus jemals sein Ziel erreichen wird. Und darüber hinaus ist es, als würde man den Bus anzünden, wenn man historische und Identitätsfragen als Kriterien auferlegt: Selbst die geduldigsten Passagiere würden sich dann beeilen, um auszusteigen.

STANDARD: Welche Konsequenzen erwarten Sie aus der ganzen Sache für Europa?

Dimitrov: Angesichts des geopolitischen Moments und des Krieges in der Ukraine brauchte die EU einen Erfolg auf dem Balkan. Aber sie hat sich für einen oberflächlichen, kurzlebigen Erfolg entschieden, der wahrscheinlich mehr Probleme schaffen als lösen wird. Nachdem sie sich jahrelang dagegen gewehrt hatte, solche bilateralen Themen in den Beitrittsprozess zu importieren, gab sie schließlich nach. Die EU ist wegen ihrer Soft Power stark, weil sie als prinzipientreuer Akteur gilt. Aber der eigentliche Test besteht darin, das zu tun, was sie predigt, sich an erklärte Prinzipien zu halten, insbesondere wenn dies nicht bequem oder opportun ist. Diese grundlegenden Prinzipien zu kompromittieren ist auf lange Sicht immer ein Fehler. Eine der Lösungen, über die wir alle nachdenken und für die wir uns einsetzen müssen, ist deshalb, die EU-Regel der Einstimmigkeit durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit zu ersetzen.

STANDARD: Es gibt kaum jemanden, der sich auf dem Balkan so sehr für Reformen und die EU-Integration eingesetzt hat wie Sie. Wie geht es Ihnen jetzt?

Dimitrov: Ich hasse es wirklich, der Spielverderber zu sein. Nachdem ich 26 Jahre dem Ziel gewidmet habe, dass der europäische Traum für mein Land Wirklichkeit wird, dachte ich, ich wäre nun der glücklichste Mensch auf dem Planeten. Aber da ich weiß, welche Demütigung wir durchgemacht haben und was uns erwartet, kann ich mich der Bitterkeit nicht entziehen. (Adelheid Wölfl, 21.7.2022)