Guter Sex kann durchaus sein wie im Porno. Aber es gibt noch viel mehr Wege zu einem erfüllten Liebesleben – mit sich allein oder mit einem Gegenüber.

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Sex sollte eigentlich die einfachste Sache der Welt sein. Doch allein an dieser Ausdrucksweise merkt man schon, dass es in Wirklichkeit kompliziert ist. Und das auch in einer Zeit, wo viel mehr über Sex geredet wird als früher. Das beschreibt auch das Problem schon recht gut. Es wird viel über Sex geredet. Aber nicht über die Bedürfnisse der Menschen, die den Sex haben. Teilweise kennen sie die gar nicht wirklich – viele sind ja immer noch geprägt von Vorstellungen aus Filmen, Literatur oder auch Pornos, wie Sex sein soll. Oft redet man auch nicht darüber, weil einem die Worte dafür fehlen oder man sich nicht sicher fühlt.

Ängste, Erwartungshaltungen und Ansprüche, die erfüllt werden wollen, prägen vielfach den Bezug zu Sex – und können bei so einem intimen Thema dann schnell eine Barriere aufbauen. Natürlich hat sich in den vergangenen Jahren schon ganz viel geändert, es gibt immer mehr, die einen ganz natürlichen und unbeschwerten Umgang mit dem Thema haben. Frauen werden in ihrer Sexualität selbstbewusster – eine Entwicklung die sicher auch von #MeToo vorangetrieben wird. Das wiederum macht manche Männer unsicherer, die ihre Rolle zum Teil neu definieren müssen – das stellt zumindest Nicole Siller fest. Sie ist diplomierte psychologische Beraterin, klinische Sexologin, systemischer Coach und Mediatorin mit Schwerpunkt auf Sexualberatung und Buchautorin zum Thema. Im Interview erzählt sie, was die Menschen in ihrer Praxis bewegt, wie man seine eigenen Bedürfnisse entdecken kann und warum Sex und Essen viel miteinander zu tun haben.

STANDARD: Was verändert sich da gerade im Zugang zur Sexualität?

Siller: Vor allem Frauen definieren ihre Rolle neu. Viele sind geprägt davon, Erwartungshaltungen und vermeintliche Ansprüche beim Sex an sie erfüllen zu sollen. Und da fragen sich jetzt immer mehr: Moment mal, was tue ich da eigentlich? Was halte ich da eigentlich alles aus?

STANDARD: Was bedeutet das konkret?

Siller: Der Selbstwert ist da ein großes Thema, oft werten sich Frauen selbst ab. Sie seien nicht jung genug, nicht schön genug, nicht schlank genug, nicht sexy genug. Und das betrifft fast alle. Die Schauspielerin Emma Thompson hat beim Filmfestival in Cannes erzählt, dass sie den Bauch einzieht, sobald sie nackt vor dem Spiegel steht – obwohl nur sie selbst sich sehen kann. Das finde ich schon ziemlich bezeichnend. Hat frau aber wenig Selbstwert, strengt sie sich noch mehr an, um zu gefallen. Ich höre immer wieder, und auch meine Kolleginnen und Kollegen, dass Frauen glauben, sie müssten gut sein im Bett. Ihre Herangehensweise ist nicht, ob ihnen das gut tut, was da passiert. Aber das ändert sich eben gerade, und das ist sehr schön!

STANDARD: Was ist gut sein im Bett? Sex wie im Porno?

Siller: Diese Bilderwelt gibt uns natürlich viel vor an Vorstellungen. Aber guter Sex ist wie eine große Blumenwiese, ein bunter Strauß an Ideen und Bedürfnissen. Und das, was im Porno passiert, ist nur ein Kraut davon – das aber vieles andere überwuchert. Das geht so weit, dass ich immer wieder jungen Frauen begegne, die sagen: Das lasse ich nicht mit mir machen, da bin ich lieber asexuell.

Gleichzeitig ist Sexualität auch ein natürliches Bedürfnis. Die kann ganz viel lustvolle Kraft geben, beeinflusst die Hormone und auch die Gesundheit positiv. Prinzipiell haben alle einen ganz natürlichen Zugang zu ihrer Sexualität. Es kommt aber viel zu oft vor, dass der abtrainiert wurde und dadurch in Vergessenheit geraten ist. Dann kann man in wieder in Erinnerung rufen.

STANDARD: Jetzt haben wir von Frauen gesprochen. Wie sehen die Erwartungshaltungen bei Männern aus?

Siller: Auch bei denen gibt es viel Unsicherheit. Ich wurde zum Beispiel schon öfter gefragt, auch von jungen Männern, ob es noch normal sei, dass man nach einem Orgasmus eine Woche lang gar keine Lust auf Sex hat. Sie stellen auch fest, dass mit viel Stress die Lust immer weniger wird. Es gibt auch immer noch die Anspruchshaltung, dass der Mann quasi immer kann und die Frau auch immer begehrt. Das ist aber nicht so und verunsichert auch einige. Es ist eigentlich ein Wahnsinn, welche Mythen es da gibt und wie viel Druck die machen. Ich denke, diese Unsicherheiten sind auch ein Wirtschaftsfaktor. Mann kauft dann nämlich bunte Pillen, Frau kauft sexy Dessous und alle möglichen Schönheitsmittelchen. Das soll dann für den guten Sex sorgen.

STANDARD: Dabei braucht es für guten Sex einfach nur zwei Menschen, die sich auf der sexuellen Ebene miteinander wohlfühlen...

Siller: Oder auch nur einen Menschen, das funktioniert auch allein wunderbar. Wichtig ist, dass man in Resonanz geht. Mit sich und mit dem Gegenüber, wenn eines da ist.

STANDARD: Das klingt ja wirklich einfach. Warum kommen dann Menschen zu Ihnen als Sexualberaterin?

Siller: Weil dieser Zugang zu einem selbst bei vielen verschüttet ist. Ich unterstütze Menschen dabei, sich selbst gut zu spüren und dann auch Worte zu finden für das, was sie wollen. Also die passenden Worte. Es ist auch eine Art Kommunikationstraining. So komisch das klingt, aber es ist wichtig zu wissen, wie man darüber sprechen kann. Dazu kommt, dass Sex sich ja auch verändert. Man lernt nicht einmal, was einem Spaß macht und gut tut, und das bleibt dann für immer so. Wie alle Bereiche des Lebens, Beruf, Beziehungen, Freundschaften, verändert sich auch die eigene Sexualität.

Grundsätzlich bin ich überzeugt davon, dass wir alle eine sexuelle Kompetenz haben – oder sie haben können. Dafür muss mir aber bewusst sein: Wer bin ich jetzt gerade? Also nicht ich vor 20 Jahren, sondern ich im Hier und Jetzt. Wonach ist mir gerade? Brauche ich mehr Tempo? Mehr Leidenschaft? Mehr Zärtlichkeit? Oder will ich im Moment vielleicht viel weniger Berührung? Das gibt es ja auch.

STANDARD: In Medien und auf Social Media wird immer noch oft vermittelt, dass Mensch immer Lust hat. Gleichzeitig gibt es zunehmend mehr Menschen, vor allem Jüngere, die von sich sagen, sie sind asexuell. Ist das eine Reaktion auf dieses Bild, diesen Druck?

Siller: Das so konkret zu sagen finde ich schwierig. Es gibt natürlich verschiedene psychologische Theorien zu Asexualität. Aber was ich erlebe, ist, dass Menschen zu mir kommen, weil sie sich nicht sicher sind, ob ihre Empfindungen so passen. Da zeigt sich des Öfteren, dass nicht fehlende Sexualität das Thema ist – sondern dass die Sexualität, die sie bis jetzt erfahren haben, nicht gut war für sie. Da geht es dann darum, den für sie passenden Weg zu finden. Der kann natürlich auch tatsächlich asexuell sein, aber das ist nicht immer der Fall. Die Grundfrage dahinter ist meist: Bin ich richtig, so wie ich bin?

STANDARD: Wie finde ich nun heraus, was für mich das Richtige ist?

Siller: Das ist sehr individuell und ganz unterschiedlich. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Alles hat mit Sinnlichkeit zu tun und mit der Fähigkeit, sich selbst gut zu spüren. Und es kann schon sein, dass man das wieder üben darf. Das hat viel mit Achtsamkeit zu tun, mit Entscheidungen treffen und natürlich auch mit Mut. Etwa wenn man Neues ausprobiert und das schiefgeht oder nicht gleich funktioniert. Es gibt nicht den einen Weg, den man empfehlen kann.

STANDARD: Aber gibt es Tipps oder Wege, wie man seinen eigenen Weg finden kann?

Siller: Ja, da gibt es natürlich verschiedene Anregungen. Es fängt damit an, dass man alles, was man bis jetzt erlebt hat und was einen nicht glücklich macht, wieder verlernen kann. Oft sagen Menschen etwa, ich weiß, wie mein Körper funktioniert und wie die Erregung kommt. Ich brauche A oder B, und dann klappt es. Nur wird das wahrscheinlich irgendwann einmal langweilig, viele denken dann, das liegt am Partner und wechseln den auch oft. Da wäre meine Empfehlung, A und B einmal wegzulassen und C, D oder Z zu probieren – auch wenn das nicht gleich klappen sollte.

Oder man kann den eigenen Körper selbst oder von einem Gegenüber neu entdecken lassen, aber ohne die primären Geschlechtsteile zu berühren. Also aussteigen aus dem Alltag und neue Möglichkeiten der Erregung finden. Man kann sich fragen, was kann ich tun, was ich noch nie gemacht habe? Da geht es dann nicht um "Höher, schneller, weiter", sondern um ein intensives Im-Moment-Sein, das berührt, darum, worauf man gerade Lust hat und wie man diese Bedürfnisse mit seinem Gegenüber teilen kann. Gerade dieses Berühren ohne die Geschlechtsteile kann sehr heilsam sein. Es gibt genügend Menschen, die vor Berührung sogar zurückschrecken, weil in ihrem Gehirn abgespeichert ist, das führt zu Sex.

STANDARD: Sie reden von Training. Wie lange dauert es, bis man das gelernt hat?

Siller: Das ist ganz unterschiedlich. Sicher, Training ist erst mal unsexy. Es ist ein bisschen wie beim Laufen. Das geht umso besser, je perfekter einem der Schuh passt. Und bis man die richtigen Laufschuhe gefunden hat, kann es ein bisschen dauern. Man wird aber für die Suche belohnt, weil man die eigenen Bedürfnisse besser wahrnehmen kann und weil vielleicht eine eingeschlafene Sexualität wieder neu und anders aufleben kann. Und dann hat man ganz generell wieder mehr Freude daran, Sexualität, Sinnlichkeit, Lust, Erregung oder Verführung wieder mehr Raum zu geben.

STANDARD: Das klingt so, als hätte es ganz viel mit Selfcare zu tun ...

Siller: Definitiv. Sexualität beginnt immer bei mir selbst. Da sind wir wieder bei dem Thema, dass man sich selbst liebevoll betrachten könnte, nicht immer nach Mängeln suchen. Es ist natürlich schwer, da einfach einen Schalter umzulegen und anders zu denken. Aber man kann damit beginnen, seinen positiven Seiten mehr Beachtung zu schenken, die eigenen Talente und schönen Merkmale, die man hat, in den Vordergrund zu stellen. Und dann über die sprechen, nicht über die wunden Punkte.

STANDARD: Früher scherzte man gerne einmal, Essen sei der Sex des Alters. Sie haben einen Podcast über "Sex & Essen". Warum gehen diese Themen Hand in Hand, auch für immer mehr junger Menschen?

Siller: Weil Essen alle Facetten in sich birgt, die es auch im Sex gibt. Manchmal habe ich Lust, mir schnell im Stehen etwas reinzuziehen, manchmal ist mir nach einem Sieben-Gänge-Menü mit Gruß aus der Küche und Kerzenschein. Und es gibt natürlich alles dazwischen. Man lernt die Welt auch über den Mund kennen. Kinder kommen auf die Welt und stecken alles in den Mund, das ist ein sinnliches Erleben. Darum ist Essen schon ein guter Weg, um auch in die erotische Sinnlichkeit zu kommen. Und es gelingt einfach nicht allen Menschen, über Sex zu reden. Da kann Essen eine gute Metapher sein, auch in der Beratung. Ich frage meine Klientinnen und Klienten dann, ob sie sich Zeit nehmen fürs Essen oder eher schnell runterschlingen, welche Lieblingsspeisen sie haben oder was sie gerne einmal ausprobieren würden. Dann fällt es vielen leichter, aus sich herausgehen. (Pia Kruckenhauser, 24.7.2022)