Laut von der Leyen würde ein Lieferstopp alle EU-Staaten schwer treffen, weshalb sie geschlossenes Handeln fordert.

Foto: REUTERS/YVES HERMAN

Brüssel/Kiew/Lubmin/Moskau – Der mit Spannung erwartete EU-Gas-Notfallplan sieht in den kommenden Monaten Einsparungen der einzelnen Länder von jeweils 15 Prozent vor. Von August bis März solle so viel Gas im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch desselben Zeitraums in den Jahren 2016 bis 2021 eingespart werden, teilte die EU-Kommission am Mittwoch mit. Die Verpflichtung auf diese Ziele solle freiwillig sein. Im Fall eines Gasnotstands sollen EU-Staaten aber nach dem Willen der Europäischen Kommission zum Gassparen gezwungen werden können. Konkret schlug die Brüsseler Behörde am Mittwoch vor, dass verbindliche Reduktionsziele möglich sein sollen, wenn nicht genug gespart wird.

Eine Voraussetzung für die Einführung von verpflichtenden Einsparzielen wäre, dass mindestens drei Staaten oder die EU-Kommission wegen einer Unterversorgung mit Gas akute Notsituationen befürchten.

Widerstand aus Polen

Die EU-Kommission warnte, dass es ohne große Einsparungen jetzt bei einem Ausbleiben russischer Gaslieferungen im Winter eng werden könne. Ab Freitag sollen Diplomaten der EU-Länder über die Vorlage diskutieren – mit dem Ziel, dass die Energieminister den Plänen am 26. Juli bei einer Sondersitzung zustimmen.

Gegen das Vorhaben regt sich jedoch bereits Widerstand von Ländern wie Polen, die eine von der EU vorgegebene Aktualisierung ihrer eigenen Notfallpläne nicht für notwendig erachten. Die polnischen Gasspeicher sind zu 98 Prozent gefüllt, nachdem Russland die Lieferungen an das Land bereits im April eingestellt hatte. Doch die EU macht Tempo: Es sei wichtig, dass alle Länder jetzt handelten und nicht erst, wenn Russland den Gashahn zudrehe.

Lieferstopp möglich

Zuletzt gab es Sorgen, dass Russland bei der Ostseepipeline Nord Stream 1 nach einer geplanten Wartung, die in dieser Woche vorbei sein könnte, den Gashahn nicht wieder aufdreht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält einen kompletten Lieferstopp von Gas aus Russland in die EU für möglich. "Wir müssen uns auf eine mögliche vollständige Unterbrechung der russischen Gasversorgung vorbereiten", sagte die Politikerin am Mittwoch in Brüssel. "Dies ist ein wahrscheinliches Szenario."

Ein kompletter Lieferstopp würde von der Leyen zufolge alle EU-Staaten schwer treffen. Zugleich betonte sie, dass die EU die Schwierigkeiten bewältigen könne, wenn sie geschlossen handle.

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Lieferungen angekündigt

Vorläufigen Daten des deutschen Unternehmens Gascade vom Mittwochnachmittag zufolge sind aber für Donnerstag Gaslieferungen durch Nord Stream 1 angekündigt. Gascade betreibt die beiden Empfangspunkte der Pipeline Nord Stream 1 im deutschen Lubmin (Vorpommern). Für beide Punkte sind laut Gascade-Website Gaslieferungen vorgemerkt. Diese Vormerkungen – sogenannte Nominierungen – seien Voraussetzung, damit nennenswerte Mengen transportiert werden können, hatte eine Gascade-Sprecherin zuvor erklärt.

Es seien circa 800 Gigawattstunden für Donnerstag angemeldet, teilte die deutsche Bundesnetzagentur am Mittwoch mit. Zum Vergleich: An den drei Tagen vor den Wartungsarbeiten waren es etwa 700 Gigawattstunden.

Die deutsche Regierung hatte befürchtet, Putin könnte den Gashahn auch nach der jährlichen Routinewartung geschlossen lassen. Die nun vorgemerkten Gaslieferungen deuten zumindest darauf hin, dass überhaupt wieder Gas fließt. Ob und wie viel Gas tatsächlich ab Donnerstag kommt, verraten die vorliegenden Daten nicht mit Sicherheit. Es kann bis kurz vor tatsächlichem Lieferbeginn renominiert werden – das bedeutet, die Angaben können geändert werden. Schon vor Beginn der Wartung von Nord Stream 1 hatte der russische Staatskonzern Gazprom die Lieferungen durch die Pipeline auf 40 Prozent gedrosselt und dies mit dem Fehlen einer Turbine begründet.

"Angespannte Situation"

Sollten die russischen Gaslieferungen über Nord Stream 1 tatsächlich ausbleiben, werde man laut Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) evaluieren müssen, ob die Gasspeicher bis zum Beginn der Heizsaison zu 80 Prozent befüllt werden können. Das sei das Kriterium für die nächste Stufe im Gas-Notfallplan für Österreich, sagte Gewessler am Mittwoch. Wenn dieses Ziel gefährdet sei, "dann werden auch bei uns die nächsten Schritte fällig, das heißt, auch die Alarmstufe".

Putin sei "kein verlässliches Gegenüber", sagte Gewessler bei der Präsentation eines Wasserstoffprojekts von Burgenland Energie und Verbund. In den nächsten Tagen werde sich zeigen, ob nach der Wartung der Nord Stream 1 die russischen Gaslieferungen wiederaufgenommen werden und in welchem Ausmaß. "Für uns ist Nord Stream 1 nicht die zentrale Versorgungsroute, aber für Deutschland ist sie es", sagte die Ministerin. "Wenn Nord Stream 1 nicht mehr liefert, ist das für ganz Europa eine äußerst angespannte Situation."

Deshalb werde es am nächsten Dienstag einen außerordentlichen Rat der Energieminister in Brüssel geben, um die Situation zu bewerten und den neuen Vorschlag der EU-Kommission für den Winterplan zu diskutieren.

Österreichisches Gas in Slowakei, Ungarn und Deutschland

Die österreichischen Gasspeicher seien heute zu mehr als 50 Prozent gefüllt, und man habe auch trotz des Totalausfalls von Nord Stream 1 weiterhin Gas eingespeichert. Der Vorrat entspreche etwa der Hälfte des österreichischen Jahresverbrauchs. "Wir können im Notfall auf alle Mengen zugreifen", sagte Gewessler. Das könne im Zuge der Energielenkung per Verordnung mit einer Zweidrittelmehrheit im Hauptausschuss des Nationalrats erfolgen.

Im Sinne der europäischen Solidarität würde die Energieministerin das aber "nicht vorschlagen in einem ersten Schritt", man werde vielmehr "darauf schauen müssen, dass wir unsere europäischen Verpflichtungen erfüllen". So hätten auch österreichische Unternehmen Gas in der Slowakei, in Ungarn und in Deutschland eingespeichert. Auch Österreich sei bei der Gasversorgung auf andere Länder angewiesen, betonte Gewessler. So brauche man die Leitungskapazitäten anderer Länder, um von den niederländischen LNG-Terminals und aus Norwegen Gas nach Österreich zu transportieren. "Österreich ist ein Binnenland, ich kann keinen LNG-Terminal in den Neusiedler See stellen."

Verbund-Chef Michael Strugl wertete es als "sehr positiv", dass die OMV Pipelinekapazitäten ersteigert hat, um norwegisches Gas nach Österreich zu bringen. Das sei ein wichtiger Baustein für Österreichs Gasversorgung. Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) bezweifelt, dass man sich in Krisensituationen auf die europäische Solidarität verlassen könne – das habe man etwa in der Flüchtlingskrise gesehen. (APA, Reuters, red, 20.7.2022)