Tichon Dsjadko lässt sich von den Repressionen nicht kleinkriegen und hofft, dass seine Beiträge möglichst viele Russen und Russinnen erreichen.

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Nach langen 138 Tagen ist Tichon Dsjadko am Abend des 18. Juli wieder auf Sendung. "Ich begrüße alle, die TV Rain eingeschaltet haben. Es ist 20 Uhr Moskauer Zeit, Sie sehen die Nachrichten bei 'Hier und Jetzt'."

Zuletzt hatte sich der Chefredakteur des oppositionellen russischen Senders Doschd, auch als TV Rain bekannt, am 1. März mit diesen Worten an sein Publikum gewandt. "Eine Stunde bevor unsere Website gesperrt wurde, zwei Tage bevor wir die Arbeit einstellen mussten und zwölf Stunden bevor ich und viele meiner Kollegen die Entscheidung trafen, das Land zu verlassen."

Höhepunkt der Repressionen

Wie für viele Journalistinnen und Journalisten in Russland war der 24. Februar dieses Jahres auch für die Belegschaft von TV Rain eine Zäsur. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine vergingen nur wenige Tage, bis die Regierung massiv gegen – ohnehin schon prekäre – oppositionelle Medien im Land vorging. Wer entgegen staatlicher Weisung weiterhin vom Krieg gegen das Nachbarland sprach, riskierte mindestens die Schließung. So erging es am 3. März auch dem Sender TV Rain, der seine Arbeit in Russland beenden musste.

Es war der vorläufige Höhepunkt der Repressionen gegen das seit seiner Gründung für seine kritische Berichterstattung bekannte Medium. Bereits 2014 stoppte die Regierung einmal die Übertragung via Kabel und Satellit. Im August vorigen Jahres wurde TV Rain dann zum "ausländischen Agenten" erklärt – eine juristische Kategorie, die unabhängige Medien als von außerhalb des Landes gesteuert brandmarken soll. In der Folge kam es in Moskau sogar zu Demonstrationen.

Exil in Georgien und Lettland

Dass TV Rain seine Arbeit überhaupt wiederaufnehmen können würde, war lange Zeit alles andere als sicher. Dsjadko und seine Ehefrau Jekaterina Kotrikadse, ebenfalls eine prominente Journalistin des Senders, fürchteten nach Beginn des russischen Angriffskrieges wegen Drohungen auf sozialen Medien um ihre Sicherheit. Sie reisten zunächst nach Tbilisi aus und siedelten später nach Riga.

Dsjadko und Kotrikadse setzten sich angesichts der Repressionen ins Exil ab – erst ging es nach Georgien, dann nach Lettland.
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Die Redaktion wurde über den gesamten Kontinent verstreut. Mehr als vier Monate später herrscht aber Erleichterung. Man habe den Großteil der Redaktion im Exil erhalten können, bestätigt Dsjadko gegenüber dem STANDARD. Der Hauptsitz der Zeitung befindet sich nun in Riga, außerdem unterhält man Studios in Tbilisi, Amsterdam und Paris. Zunächst würden online einzelne Formate gesendet, bis Herbst solle dann ein vollwertiges Programm stehen, wie zu Beginn der ersten Ausstrahlung gemeldet wurde.

Keine Berichte aus Russland

Ein Wermutstropfen bleibt, dass Berichterstattung aus Russland bis auf weiteres unmöglich ist und der direkte Kontakt zum Geschehen im Land verloren geht. Dass man beim russischen Publikum deshalb an Relevanz verlieren könnte, glaubt er aber nicht. "Wir müssen dieses Problem mit Aufmerksamkeit behandeln. Unsere Priorität sind Nachrichten aus Russland, und wir erarbeiten derzeit ein System, wie wir diese ausführlich behandeln können, ohne selbst vor Ort zu sein", berichtet er dem STANDARD.

Die Rückkehr von TV Rain sei eine grundgute Nachricht, findet auch Journalistin Anastasia Gorochowa. Sie selbst verließ Russland 2012 wegen Sicherheitsbedenken, nachdem sie aufgrund einer Äußerung zum damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew in Ungnade gefallen war. "Es ist jetzt wichtig, alles zu tun, was man tun kann, um der russischen Propagandamaschine die Stirn zu bieten", sagt sie gegenüber dem STANDARD. "Außerdem ist es in diesem exponierten Fall auch symbolisch wichtig zu zeigen: Wir machen weiter – und können das auch."

Gelebte Pressefreiheit

Schon in der ersten Ausstrahlung am Montagabend sendete TV Rain spezifisch gegen die Propaganda des Kreml an. Als einen der ersten Beiträge wählte man, kaum zufällig, einen Bericht über das von russischen Soldaten begangene Massaker im Kiewer Vorort Butscha und die Rückkehr vieler Bewohner nur wenige Monate nach dem Kriegsverbrechen aus. Das Zeigen derartiger Bilder erfüllt in Russland weiterhin den Tatbestand der "Diskreditierung des Militärs", auf den bis zu 15 Jahre Haft stehen. TV Rain wird dieses Gesetz, das die russische Regierung auch auf Staatsbürger im Ausland anwendet, noch oft und gerne brechen. "Wir haben einen Korrespondenten in der Ukraine, perspektivisch sollen mehrere dazukommen", erklärt Chefredakteur Dsjadko.

Gorochowa, die mittlerweile in Berlin lebt und unter anderem für Deutschlandfunk Kultur arbeitet, denkt, dass TV Rain damit auch aus dem Exil Menschen in Russland erreichen kann. "Glücklicherweise ist das Internet in Russland ja noch nicht komplett abgeschaltet. Dementsprechend besteht die Hoffnung, dass Menschen die Beiträge sehen werden." Auch Dsjadko betont, dass man keineswegs nur daheimgebliebene Oppositionelle erreichen wolle. "Jeder Mensch hat das Recht dazu, sich zu irren oder Informationen nicht zu kennen. Man darf die Leute dafür nicht verurteilen, sondern muss einfach diese Lücke füllen."

Hoffnung auf Zukunft nach dem Krieg

TV Rain ist nicht das erste unabhängige russische Medium, dem ein Neubeginn im Ausland gelang. Bereits im April hatte die Zeitung "Nowaja Gazeta", deren Chefredakteur Dmitrij Muratow 2021 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, ihre Arbeit von Europa aus wiederaufgenommen. Wichtig ist das auch mit Blick auf eine Zeit nach dem Krieg. "Unabhängige Medien werden dann eine maßgebliche Rolle spielen", meint Dsjadko. "Ihre Arbeit kann dazu beitragen, die Situation im Land wieder zum Besseren zu wenden." (Thomas Maier, 20.7.2022)