Boris Johnson verlässt die 10 Downing Street – im September dann endgültig. Wer ihm nachfolgt, ist noch unklar.

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Gerade mal 14 Tage sind vergangen, seit Boris Johnson widerwillig seinen Rücktritt als konservativer Parteivorsitzender ankündigte. Premierminister bleibt der 58-Jährige bis Anfang September, dann soll die Nachfolge geklärt sein.

Politisch giftig bleibt der populistische Brexit-Marktschreier bis zuletzt. Im Unterhaus wiederholte er die üblichen Prahlereien über seine gescheiterte Amtszeit, wetterte in der Manier eines rechtsradikalen Hasspredigers gegen den "deep state" und beklagte die angeblich knallenden Champagnerkorken im Kreml "und den Jubel in Islington" – jenem Nordlondoner Stadtteil, wo Oppositionsführer Keir Starmer wohnt. Auf perfide Weise wurden also der blutgetränkte russische Diktator und die oppositionelle Labour-Party in einen Topf geworfen – als sei die tatsächlich hervorragende Solidarität Großbritanniens mit der Ukraine nicht parteiübergreifend.

TV-Debatte abgesagt

Sicher nicht zufällig war im Rennen um Johnsons Nachfolge viel von verlorengegangenem Vertrauen in die Politik die Rede. Freilich prügelten die Männer und Frauen mit derartiger Gewalt aufeinander ein, dass eine eigentlich angesetzte TV-Debatte am Dienstag abgesagt werden musste – in der Parteizentrale befürchtete man wohl dauerhaften Imageschaden.

Drei Dinge konnte lernen, wer das Schaulaufen beobachtet hat. Es präsentierte sich dort, erstens, eine fabelhafte Vielfalt, die viele keineswegs nur konservative Parteien in Europa erblassen lässt. Sechs der ursprünglich elf Kandidaten sind Nichtweiße; alle vier Frauen, aber nur zwei Männer überstanden den ersten Wahlgang. Diese Woche blieben der indischstämmige Ex-Finanzminister Rishi Sunak und drei Frauen übrig, darunter die in Nigeria aufgewachsene Kemi Badenoch. In die Urwahl gehen nun das Migrantenkind Sunak und mit Liz Truss eine weiße Frau, beide sind in den Vierzigern. Im Vergleich dazu sah der letzte Führungsstreit der deutschen CDU langweilig und alt aus.

Ein Wahlverfahren aus einer anderen Zeit

Hoffnungslos aus der Zeit gefallen ist hingegen, zweitens, das Wahlverfahren. Zunächst 358 Mitglieder der Unterhausfraktion bestimmen das Kandidatenduo, anschließend wählen rund 180.000 überwiegend weiße ältere männliche und in Englands Süden wohnhafte Parteimitglieder den neuen Premierminister. Ist das der zunehmend auf Partizipation angelegten Gesellschaft des multikulturellen, multinationalen Königreichs angemessen?

Die Tories haben, drittens, nach zwölf Jahren die Lust am Regieren verloren. Ernste Probleme hat das Land genug: die Klimakrise und die weltweite Inflation, das zutiefst beschädigte Verhältnis zur EU, die wachsende Staatsschuld, die schreiende soziale Ungleichheit, das knirschende Gefüge der Union aus England, Schottland, Wales und Nordirland. Davon aber war kaum die Rede, umso mehr von ökonomisch bestenfalls zweifelhaften Steuersenkungen. Wer sich in der ideologisch reinen rechten Ecke verkriecht, wird die Macht bald verlieren. (Sebastian Borger, 20.7.2022)