Die Sperrzone rund um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl ist noch immer radioaktiv belastet. Im sogenannten Roten Wald fielen besonders viele Pflanzen und Tiere vor 36 Jahren der radioaktiven Wolke zum Opfer.
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Die Warnung von Aktivistinnen und Aktivisten der NGO Greenpeace klingt dramatisch: Unweit des ehemaligen Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine habe man über drei Tage hinweg Messungen durchgeführt, die auf erhöhte "Radioaktivitätswerte" schließen ließen. Demzufolge würden die Grenzwerte für Atommüll bis um das Vierfache überschritten. Der für Atomkraftthemen zuständige Greenpeace-Vertreter Jan Vande Putt kritisierte in diesem Zusammenhang auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA, deren Schätzungen nur auf ein Drittel der von Greenpeace gemessenen Werte kämen.

Die NGO gibt an, eine "radioaktive Strahlung" – also eine Dosisleistung zwischen 0,2 und 7,7 Mikrosievert pro Stunde – registriert zu haben. Wie systematisch die Messwerte zustande kamen, bleibt dabei allerdings unklar. Üblich wäre eine standardisierte Messung in einem Meter Abstand zum Boden, sagt der aus Österreich stammende Radioökologe Georg Steinhauser von der Universität Hannover auf STANDARD-Anfrage. In Tschernobyl gebe es aber durchaus auch Orte, an denen infolge der Katastrophe vor 36 Jahren noch höhere Dosisleistungen zustande kämen, allein etwa durch Messungen in Bodennähe.

Kein Atommüll abgebrannt

Dementsprechend sei die Meldung mit großer Vorsicht zu genießen, macht Steinhauser deutlich. Die Kritik an der Objektivität der IAEA hält er für nicht gerechtfertigt: "Dieser Organisation mit UN-Status ist die nukleare Sicherheit sehr wichtig, das ist immerhin ihr Kerngeschäft."

In die Meldung ist auch eine Aussage von Sergiy Kirieev eingeflossen, der Generaldirektor des mit Strahlenschutzfragen betreuten Unternehmens SSE Ecocentre in Tschernobyl ist und der in jahrelanger Arbeit Erfahrung mit der Radioaktivität rund um das ehemalige AKW gesammelt hat. "Russische Soldaten haben in radioaktivem Abfall gegraben und Atommüll verbrannt", wird er in der Meldung zitiert. Auf einer Fläche von 80 Quadratkilometer sei Wald in der Sperrzone von Tschernobyl verbrannt worden.

Während seine Expertise unzweifelhaft sei, dürfte es sich hier um eine unglückliche Wortwahl handeln, sagt Steinhauser: "Es ist völlig unplausibel, dass tatsächlich Atommüll – also abgebrannter nuklearer Brennstoff – im Wald verbrannt wurde." Einerseits würde das Material nicht brennen, andererseits wäre eine dabei freigesetzte Menge an Radioaktivität hoch genug, dass sie auch auf tausende Kilometer Entfernung im Rest Europas bei den regelmäßigen Messungen längst aufgefallen wäre.

Kontamination aus dem Roten Wald

Wahrscheinlicher sei hingegen, dass kontaminiertes Pflanzenmaterial, das vor mehreren Jahrzehnten vergraben wurde, teilweise zutage gefördert wurde. "Die russischen Soldaten dürften sich im Roten Wald verschanzt haben", sagt Steinhauser. Über den sogenannten Roten Wald zog nach der Explosion in Tschernobyl die erste radioaktive Wolke – das Strahlungsniveau war damals dermaßen hoch, dass zahlreiche Nadelbäume starben und sich deren Nadeln im Laufe der Zeit rot verfärbten.

"Um die Feuergefahr des trockenen Holzes zu verringern, haben die Sowjets schon in den 1980er-Jahren begonnen, die toten Bäume zu vergraben", sagt Steinhauser. Plausibel sei, dass russische Soldaten in jüngster Vergangenheit in dem Areal ebenfalls Gräben ausgehoben haben und so nicht nur radioaktiven Staub aufwirbelten, sondern kontaminierte Baumüberreste wieder ans Tageslicht brachten und womöglich auch in Lagerfeuern verbrannt haben könnten. Aber selbst das Reisig von aktuell lebenden Bäumen sei zum Teil hoch kontaminiert.

Dass die aktuellen Messwerte "erschreckend hoch" seien, wie es der Anti-Atom-Sprecher der Grünen Martin Litschauer einer Aussendung zufolge ausdrückte, "sei anhand der jetzigen Datenlage nicht nachvollziehbar", betont Steinhauser. (Julia Sica, 20.7.2022)